Verloren – oder: Mütterchen und die „Dritten“… – Literaturwettbewerb

von Linde Gerster

Frühmorgens ereilte mich der Anruf:

„Du! Jetzt habe ich meine Zähne verloren! Die unteren.

Muss mir das auch noch passieren! Was soll ich jetzt bloß machen?“

Fernmündlich versuchte ich erstmal meine einundneunzigjährige, verzweifelte, nun wegen des fehlenden Zahnersatzes nuschelnde  Mutter, zu beruhigen und bat sie, mir zu schildern, unter welchen Umständen ihr denn das dringend benötigte Objekt abhanden gekommen sei.

Ich erfuhr,  dass Mutter die vergangenen Tage unpässlich gewesen sei, dass sie  sich gestern morgen erbrochen habe, und dass sie, weil sie nicht Gefahr laufen habe wollen, ihre „Dritten“ mit in die Klo-Schüssel zu spucken, diese zuvor auf die Ablage des sich dicht am Klo befindenden Waschbeckens gelegt habe.

Anschließend habe sie das Gebiss aber nicht zurück in den Mund gesteckt, denn sie habe mit einer weiteren Brechattacke rechnen müssen, sondern in die Tasche des Bademantels und sei ins Wohnzimmer geflüchtet, um sich in ihrem Fernsehsessel von diesem Brechanfall zu erholen.

Da lag sie nun den ganzen Tag, versorgt und umhegt von meiner zu Besuch weilenden Schwester und entdeckte erst am  Abend, dass in der Bademanteltasche nur der Zahnersatz des Oberkiefers vorhanden war, das Unterkieferteil aber fehlte.

Sofort begann meine Schwester nach dem fehlenden Teil zu suchen. Vergebens.

Mutters Gesundheitszustand hatte sich soweit gebessert, dass auch sie sich an der Suchaktion beteiligte. Vergebens.

„Ja nun“, sagte meine Schwester, dann lässt du dir eben ein neues Gebiss anfertigen!“

Diese logische Schlussfolgerung war aber nicht so ohne weiteres zu realisieren.

Erstens befinden sich im August alle Zahnärzte im Urlaub, zumindest die an Mutters Wohnort praktizierenden, und zweitens,  ist es für Mütterchens moralische Einstellung vermessen, in ihrem hohen Alter noch die Krankenkasse zu belasten, da sie ohnehin ab und zu ein schlechtes Gewissen zu haben scheint, dass sie immer noch unter den Lebenden weilt.

Am nächsten Morgen nahmen beide erneut die Suche auf, was Mutter betrifft, nicht ohne den in solchen Fällen bewährten Hl. Antonius um Hilfe zu bitten und ihm, im Falle des Erfolgs auch eine angemessene Belohnung  in Form einer Spende in Aussicht zu stellen.

Sie durchsuchten nun auch das ganze Erdgeschoss. Vergebens.

Nachmittags gesellte ich mich zu ihnen. Wir suchten nun zu dritt und bezogen in das zu „filzende“ Revier außer dem Obergeschoss auch die Bühne und den Keller ein: Vergebens.

Zu dritt fanden wir eine Erklärung: Das untere Gebissteil muss wohl statt in die Manteltasche ins Klo gerutscht sein, neben dem Mutter stand. Benommen von der vorausgehenden Würgerei, konnte sie das dabei entstehende Geräusch gar nicht wahrnehmen, denn ihre Hörgeräte steckten nicht in den Ohren sondern im Etui, und außerdem rauschte die Druckspülung der Toilette  so laut, dass es auch Guthörende nicht bemerken hätten können.

In den Tagen als ich mit meiner Mutter auf die Rückkehr des Zahnarztes wartete, erzählte ich verschiedenen Leuten von diesem Missgeschick.

„Ach Gott, ja, dazu weiß ich auch einen Vorfall!“ bekam ich in schöner Regelmäßigkeit zu hören und staunte, wie oft und schnell „Dritte“ verloren zu gehen pflegen. Mir wurde z. B. von einem General a. D. erzählt, der nachts, im Schlaf gestört und verärgert über das lästige Katzengejammer auf der Wiese unter seinem offenen Fenster, nach dem Nächstbesten  griff, um damit nach den Tieren zu werfen und  sie zu vertreiben: Es war der Becher auf seinem Nachttisch, in dem seine Kunst-Zähne im Kukident-Wasser lagen.  Natürlich suchte er am nächsten Morgen vergebens im hohen Gras nach ihnen.

Oder eine alte Dame fand beim Ausräumen des Ofens den Metallunterbau ihres lange vergebens gesuchten Zahnersatzes in der Asche, wobei sie sich nicht erklären konnte, wie er dahinein geraten war.

Und die Enkel  unseres Nachbarn stießen beim Ostereiersuchen auf Opas Zähne. Sie lagen auf dem Garagenfenster, wo sie der alte Herr vor Wochen beim Autoputzen abgelegt hatte, als ihn Druckstellen plagten.

Endlich kam der Zahnarzt aus dem Urlaub zurück. Er räumte uns einen Sondertermin ein, und bemühte sich, meinem greisen Mütterchen alsbald wieder zu einem größeren Essgenuss zu verhelfen.  Das neue Gebiss saß weit besser als das alte, verursachte keine Druckstellen und war stabil.

Mutter war getröstet, war glücklich: Nie im Leben hätte sie gewagt, das wackelnde, schabende schon mehrmals geflickte, dreißig Jahre alte Ding ersetzen zu lassen, wenn es nicht verloren gegangen wäre…

Kaum war Mutter wieder im Besitz eines vollwertigen Zahnersatzes, stieß sie eines Morgens schmerzhaft mit den Zehen an ein hartes Ding, das sich im Rand des Bettvorlegers verkeilt und sich jeder Attacke von Staubsauger oder anderen Reinigungsgeräten entzogen hatte…

Da war es also wieder, das verlorene Teil.

Zu spät! Hatte Antonius nun geholfen oder versagt?

Nun, Mütterchen will nicht kleinlich sein. Schließlich will es sich mit dem Heiligen nicht verderben, jetzt wo es erfahren hat, wie leicht man seine „Dritten“ v

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