Unerwartet in Marseille? – Lit-Split

Es gab da diese Alte und es gab mich. Und da auch noch diese Erinnerung, die mich ständig nur durch Eiswasser stampfen ließ.
Der Große Bär stand stumm am Himmel und staunte, wie ein Mensch allzu menschliches Regen einfach so vermissen ließ.
Einen direkten Zusammenhang herzustellen erschien mir dennoch unnütz. Bloß nicht auffallen, könnte der Befehl der Großen Frau gewesen sein. Doch, da wusste ich es schon besser.
Ich war einfach nicht zu Auffälligkeiten geschaffen.
Wenn es nun nur stimmt, dass lediglich 2 % des Genoms uns von den anderen Primaten unterschied, warum sollte dann mein Wunsch nicht der einer Schildkröte sein?
Pissen Olympioniken eigentlich beim Schwimmen auf Schildkröten?

Die Alte sah zu mir, mein Blut pulste und das war es, vor dem mich Ärzte ständig gewarnt hatten. „Tue nichts Unbedachtes, sei nur immer bei dir“, so ihr Rat. Ob der Prämie für meinen Abschuss geschuldet, oder dem Leistungskatalog der Krankenkassen, werde ich nun wohl nicht mehr erfahren.
Das Ziel könne der Weg sein, so Isoldes Vermutung bei unserem letzten extatischen Ineinanderdringen und Verknoten der Gehextremitäten.
Sie mit ihrer Edelstahl-geschmückten Zunge an meinem Kehlkopf zupfend und ich mit dem, was einen wie mich nach landläufigen Meinungen eigentlich erst zu männlicher Höchstleistung befähigte.

Meine bislang in Jahren angesammelte Weisheit war der, der Alten da nicht wirklich ebenbürtig. Eher einem Mann mit gewissen Defekten in der Selbstbetrachtung oder dem ganzen Gegenteil hierzu, barfuß an einem Strand nahe Marseille im Regen stehend.
Die Alte brauchte ich nach den Unterschieden gar nicht erst zu befragen. Sie würde sich in ihr schon Jahre andauerndes Schweigen hüllen und ihre kunstvoll gehäkelte, schwarze Stola.

Und ich Dödel hatte gedacht, der Keks ist gegessen. Doch die Fresse dieses Korsen belehrte mich eines Besseren.
Hunde stinken im Regen und das unterscheidet sie schonmal ganz gewaltig von Katzen. Auch Primaten? Schildkröten?
Und dieser Kerl hier, mit den Pranken eines ausgewachsenen Gorrilas, wusste ganz genau, welch üble Schäden er mit seinen Kohlenschaufeln von Händen, in einem so schönen Gesicht wie dem meinen anzurichten im Stande war.
Und außerdem stank er, der Hund!
Und es regnete auch schon seit Stunden.
Als ich dann auch noch meinen Kiefer brechen hörte, beschloss ich, mich der unendlichen Friedlichkeit einer tiefen Bewusstlosigkeit hinzugeben. Auf einmal hatte ich nur noch den Wunsch, den alles erleuchtenden Kronleuchter am spätabendlichen Himmel, einen verdammten Kronleuchter sein zu lassen. Selbst, wenn ich diesen Entschluss bereuen sollte.

Marseille, so heißt es, diene nur einem Zweck, nämlich dem, diese Stadt so schnell wie möglich wieder weit hinter sich zu lassen.
Der schwarze Kerl am Ende der Bar hatte also heute Nacht völlig recht gehabt, als er mir mit rollenden Augen versicherte, dass es Dummheit wäre, hier in diesem Konglomerat aus Lust und Wahnsinn ausgerechnet nach dieser Schlampe gesucht zu haben. Weiber, die es mit allen Körperöffnungen machten, gäbe es für Kleingeld an jeder Ecke und einer wie ich bräuchte nur tief genug in die Schatulle zu greifen, und er würde nicht nur die Sonne, sondern auch all die Sternlein am Firmament in aller Pracht aufgehen sehen.
Meine Frage, ob er im Nebenfach zum Zuhälter auch noch Literatur oder Kreatives Schreiben studiert habe, schien er dann völlig richtig verstanden zu haben.
Auf jeden Fall hielt ihn meine Polizeimarke von einem zweiten Angriff auf meine Unversehrtheit ab, bevor er seinen Mageninhalt nach einem Schwinger in die Magengegend über meine handgearbeiteten Stiefel kotzte.

Kotzen reinigt und manchmal stülpt sich der Magen dabei über die Gehirnmasse und der Mensch wird wieder zum Urtierchen. Sollte sowas Gott-gewollt sein?
Aber solche Überlegungen und vor allem die einzige Frage, der es lohnte nachzugehen, musste ich mir nun erstmal verkneifen.
Obwohl mich diese Frage eigentlich erst in dieses Südfranzösische Rattennest verschlagen hatte. Wo, verdammt, war Isolde?

„Marseille, oh du mein stolzer Held, solltest du mal sehen“, hatte sie mir gesagt. Doch was ich da sah, machte mich nicht glücklich, eher hundenass. Marseille im Regen? War es das, was sie gemeint hatte?
Und warum hatte sie mich dann nicht abgeholt? An der Station des TGV? Und warum war ich dann sofort in diese Bar gegangen und wurde auch sofort als das erkannt, was ich niemals zuvor gewesen?
Ich ein Freier?
Einer, dem der Sack brennt?
Und warum hatte ich dann diese vedammte Frage gestellt und Isoldes Bild auch noch reihum gezeigt?

Und warum wohl war mir der Korse bis ins später aufgesuchte Hotel gefolgt? Wobei ich ihn noch nicht einmal bemerkte?
Ich hatte geduscht, kurz in die Minibar gelangt, als es schon an der Zimmertüre klopfte.
Ja, verdammt, ich wusste von Isoldes Vergangenheit. Hatte ich gehofft, ich wäre da der Einzige? Warum hing Isolde so an diesem Drecknest? Was war hier für sie so wichtig? Ihre Mutter? Ihre ganze verdammte Familie? Aber die lebte doch in Biaritz, wie sie mir, dabei treublickend,versichert hatte.

Dieses Gerenne auf dem Flur, Typen in Rot machen mir Angst. Einer, der mir mit irgendwas ins Gesicht leuchtet. Ohrfeigen sind das erste was ich spüre.
Für den Korsen lege ich nichts ins Feuer, noch nicht mal meine Hand, die mir jetzt trotzdem brennt. Isolde, du stinkst! Du stinkst nach kaltem Rauch. Dein Atem erdrückt mich, stört!
Warum willst du meinen Namen hören? Du weisst genau, wie ich heiße.
Nein Isolde, so hatte ich mir Marseille nicht vorgestellt. Noch nicht einmal im Regen.

Doch ich bin nach wie vor noch ich. Ein Bulle mit Füßen im Eiswasser. Und einem Bären, der nach wie vor nur verständnislos staunt, wie ein Mensch allzu menschliches Regen einfach so vermissen ließ.

Und dann diese Alte da, in ihrer schwarzen Häkelstola. Die Große Frau? Das ewig Weibliche? Hingezogen zu ihr sich fühlen, so meine Überzeugung jetzt, gehört einfach dazu, sich Mensch zu nennen. Zumindest für etwa 2% des Genoms.

Chefschlumpf

Schreibe einen Kommentar