Dieser Tage legte der Postbote meinem Vater nebst Unmengen an Werbung und Katalogen tatsächlich auch einen Brief direkt aus dem Kanzleramt in den Briefkasten. Unglaublich aber wahr, Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel persönlich hatte sich an meinen Vater, im Übrigen einem alten Roten und langjährigem Gewerkschaftsmitglied, gewandt und ihn beredt und in schönen, wohlklingenden Worten gebeten, ihm bei der bevorstehenden Wahl die Stimme zu schenken. Neben einem kurzen Lacher kostete das Schreiben meinem Vater wenig Aufmerksamkeit und Interesse, es landete nach kurzer Durchsicht beim Altpapier. Der Verdacht liegt durchaus nahe, dass Schüssel sich mit diesem Brief an alle etwa drei Millionen Haushalte in Österreich gewandt hat und sich samt seinen Wahlkampfmanagern sehr wohl der Tatsache bewusst war, dass er mit dieser ausgeklügelten Massensendung auch etliche eingeschworene Sozialdemokraten erreichen würde…
Aber nicht nur unser sehr verehrter Herr Bundeskanzler schenkt der Post jede Menge Porto, gar keine Frage, Oppositionsführer Alfred Gusenbauer, seines Zeichens Sozialdemokrat, ließ sich nicht lumpen und adressierte dieser Tage direkt an „Familie Pree“ um dieselbe Bitte an uns zu richten: „Wählt doch Rot!“ Als „rotes“ Parteimitglied wurde mein Vater gleich noch einmal in einem weiteren Schreiben persönlich um „seine Unterstützung“ bei der Wahl gebeten, und das natürlich demnächst in der Wahlurne. Praktisch zum Drüberstreuen wurden mein Bruder, durch seine langjährige Tätigkeit in einer Firma mehr oder weniger Zwangsmitglied bei der Gewerkschaft, und ich selber, die ich, wie ich schon in einem Beitrag erläutert hatte, vor weit über zehn Jahren ein kurzes Intermezzo bei der Gewerkschaft der Privatangestellten feierte, von einem Vertreter der Gewerkschaft der Sozialdemokraten angeschrieben.
Der Hintergrund war natürlich genauso offensichtlich: Wähl rot! Ohne mich hier auf eine etwaige politische Richtung festzulegen – ich werde mit Sicherheit nicht wählen gehen! – kann ich nur darüber staunen, wie viel Geld von den Parteien mit Briefen an die potentielle Wählerschicht verschleudert wird. Auch wenn im Zeitalter der Computer solche Serienbriefe und –Broschüren standardisiert sind und im Grunde wohl nur mehr das Einpacken und Verschicken selber Arbeit macht: das Porto muss trotz der gestaffelten Tarife für Massenbriefe ein Heidengeld kosten, für das ich mir selber wohl nicht nur einen schönen Urlaub in südlichen Landen leisten sondern auch eine nette Wohnung gemütlich einrichten könnte. Gott sei Dank gehöre ich keiner Partei an und fühle mich auch keiner verpflichtet, aber trotzdem frage ich mich, was sich wohl so ein potentielles Parteimitglied denkt, wenn mit solchen Aktionen die Mitgliedsbeiträge gerade zu verschleudert werden.
Natürlich ist die kommende Wahl besonders bedeutsam, und mir ist schon bewusst dass dem Stimmenfang selten so viel Bedeutung zukam wie dem Urnengang am 1. Oktober. Und auch wenn 95 % der anvisierten Staatsbürger solche Schreiben ungelesen im Papierkorb entsorgen: jeder einzelne, der sich davon doch beeinflussen lässt, zählt gerade zu schon doppelt, weil er den politischen Gegner auch nicht wählt. Bei Wahlen geht es nur um den Machtgewinn, der Wähler selber ist Nebensache und soll – hart formuliert – nur dressiert werden, seine Stimme abzugeben, damit man die nächsten vier Jahre das Zepter nicht mehr aus der Hand geben muss. Danach gibt es auch keine großartigen Schreiben mehr an die Wähler, denn dann braucht man sie auch nicht mehr – sie sind in erster Linie ja doch nur Mittel zum Zweck!
Es gibt im Grunde nur einen, der – mal abgesehen von dem marginalen Vorteil der einen oder anderen Partei – wirklich von diesen Massensendungen quer durch Österreich profitiert: das ist die Post, die zu Wahlzeiten ähnlich großen Umsatz scheffeln dürfte wie zu Weihnachten. Zwar gibt es sicher Sonderkonditionen für die Parteien, aber trotzdem rechnet sich das Geschäft mit den Wählerbriefen der Parteien mit Sicherheit. Das ist fast schon wie ein zweites Weihnachten, wenn die Österreicher in großem Stil mit „Bettelbriefen“ überschwemmt werden. Und in beiden Fällen geht es nur um den persönlichen Vorteil: auf der einen Seite soll die Aktion Wählerstimmen bringen um die Macht zu manifestieren, auf der anderen soll an die Brieftaschen und an das wohltätige Herz der Leute appelliert werden. Wie man es auch dreht und wendet: es gibt nur wenige Sieger und viele Verlierer…
© Vivienne