Neue Bohnen Zeitung


von Vivienne  –  Jänner 2005



A Wunder…

Herwig Schuster kniete am Boden.
Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte er die Arbeit des Notarztteams.
Reanimation.
Defibrilator.
Jetzt!
Der beleibte Mann am Boden bewegte sich nicht.
Der Notarzt blickte die beiden Sanitäter an.
Keine Anzeige am Gerät.
Ein weiterer Versuch.
Jetzt!
Wieder keine Anzeige.
Der Notarzt seufzte.
Er wirkte erschöpft.
Seit einer Viertelstunde bemühte er sich um das Leben des Mannes.
Einmal noch!
Jetzt!
Der Körper bäumte sich auf.
Sackte wieder zusammen.
Kein Herzschlag.
Der Notarzt drehte sich zu Herwig Schuster.
Es hat keinen Sinn…
Schuster starrte ihn an.
Ungeheuerlich diese Worte.
War sich der Arzt bewusst, was er da sagte?
Immerhin sprach er von seinem Bruder!

Fritz Schuster stand auf.
So gar nicht winterlich sah es aus.
Und heute Abend war Weihnachtsfeier.
Heute hatte er seine Leute geladen.
Die Leute aus seinem kleinen Betrieb.
Eine Baufirma aus dem Großraum Linz.
Er wusste, was sich gehört.
Auch wenn…
Auf die Männer konnte er sich verlassen.
Seit fast fünfzehn Jahren.
Und sie mussten es ja nicht wissen.
Noch nicht.
Fritz dachte an den Anruf gestern Abend.
Der Gerichtsvollzieher.
Montag komme ich in der Früh zu Ihnen, Herr Schuster.
Da bekomme ich dann die offenen 150.000 Euro.
Sonst muss ich Sie pfänden.
Und Sie bekommen eine Anzeige.
Fahrlässige Krida…
Schauen Sie also, dass Sie das Geld organisieren.
Fritz Schuster ging ins Bad.
Er blickte in den Spiegel.
Es hatte keinen Sinn die Bank zu fragen.
Und sein Bruder Herwig konnte ihm nichts leihen.
Und selbst wenn…
Nie hätte er Herwig den Triumph gegönnt.
Nie.
Fritz ballte die Faust.
Dann stöhnte er auf.
Ihm war so schlecht.

Herwig Schuster fühlte sich wie in einem Film.
Er sah zu, wie Fritz auf eine Bahre gelegt wurde.
Ein letzter Blick auf das Gesicht.
Farben verschmiert.
Die nackte Brust.
Behaart und rot.
Von der beständigen Reizung.
Reste eines lächerlichen Kostüms.
Jazz Gitti!
Sein Bruder verkleidete sich bei Firmenfeiern gerne.
Heuer als Jazz Gitti.
Das war sein Bruder!
Er erkannte nicht einmal mehr das Gesicht.
Es wirkte ekelhaft mit den grellen Farben.
Die Perücke lag am Boden.
Sie fiel ihm erst jetzt auf.
Mechanisch ging er hin und hob sie auf.
Wohin damit?
Erst jetzt nahm er seine Schwägerin wahr.
Sie schluchzte an der Schulter ihres Sohnes.
Karl.
Fritz war tot.
Der Satz hatte nichts von seiner Ungeheuerlichkeit verloren.
Fritz, sein älterer Bruder.
Er hatte nichts tun können.
Gar nichts.
Jetzt trugen ihn die Sanitäter hinaus.
Herwig schüttelte den Kopf.
Dann sah er seine Hände an.
Sie zitterten…

Fritz Schuster ließ den Kaffee halb getrunken stehen.
Er schmeckte ihm heute nicht.
Senta, seine Frau, war schon weg.
Sie wollte ihm die Verkleidung besorgen.
Jazz Gitti.
Richtig.
Warum auch nicht?
Es passte.
Er war ja auch klein und dick!
Wenn ihm nur nicht so schlecht gewesen wäre!
Heute war es ganz arg.
Nicht einmal die Zigarette schmeckte ihm.
Er dämpfte sie aus.
Wie spät?
Halb zehn.
Gut, dass Samstag war.
So hatte er den gestrigen Anruf verbergen können.
Die Burschen sollten sich alle noch einmal amüsieren!
Einmal noch!
Fritz griff sich an den Magen.
Er musste eine Magenverstimmung haben.
Darum ging es ihm nicht gut…
Stimmen im Vorhaus.
Senta war wieder da!
Sieh, was ich da habe!
Es wird toll!
Ich werde dich schminken!
Fritz bemühte sich zu lächeln.
Am liebsten hätte er sich wieder hingelegt.

Karl suchte Blickkontakt zu seinem Onkel.
Wir müssen es den Leuten im Nebenzimmer sagen.
Er ist doch tot…
Wieder dieser Satz!
Durfte Gott das?
Ihm den Bruder zu nehmen?
Vor der Zeit?
Er war doch erst 55 Jahre alt gewesen!
Herwig nickte.
Er ging ins Nebenzimmer.
Etwa zwanzig Männer warteten dort.
Alle mehr oder wenige verkleidet.
Ihre betretenen Blicke taten ihm weh.
Der Notarzt konnte nichts mehr tun…
Nein.
Er konnte es nicht sagen.
Fritz ist tot.
Nein.
Verdammt.
Die Blicke der Männer.
Die sich Gedanken machten.
Um ihren toten Chef.
Nicht um ihre Arbeitsplätze.
Sie ahnten ja nichts.
Nicht das Geringste…

Willst du nichts essen?
Sentas Stimme klang besorgt.
Nein.
Fritz schüttelte den Kopf.
Ich habe mir den Magen vertan.
Ich schon mich lieber für heute Abend.
Gequält grinste er in den Spiegel.
Senta hatte ihn probegeschminkt.
Die Ähnlichkeit war wirklich frappant.
Er war Jazz Gitti.
Seine Leute würden sich krümmen vor Lachen.
Genau das wollte er.
Montag früh würde ihnen das Lachen vergehen.
Möchtest du einen Magenbitter?
Sentas Hand auf seiner Schulter erschreckte ihn im ersten Moment.
Ja.
Warum nicht.
Kann nicht schaden…
Senta wusste es.
Sie hatte das Telefonat gestern mit angehört.
Nur zufällig hatte er es bemerkt.
Aber sie hatte nichts zu ihm gesagt.
Kein Wort.
Und er war dankbar dafür…
Ihr auch noch zu erklären, warum…?
Er war ein kleiner Unternehmer.
Und um mit den Großen mithalten zu können…
Aber ewig kann man nicht unter dem Selbstkostenpreis Häuser bauen…

Herwig überlegte.
Sollte er es den Leuten erklären?
Aber es war nicht seine Aufgabe.
Senta schluchzte noch immer.
Auf ihrem Gesicht waren Tränenspuren.
Herwig wollte zu ihr hingehen.
Aber Senta wehrte ab.
Du hättest ihm nie geholfen?
Nicht wahr?
Deinetwegen ist er gestorben!
Weil er zu stolz war, zu dir zu gehen.
Die Sorge hat ihn umgebracht!
Herwig wandte sich ab.
Lächerlich.
Aber im ersten Schmerz…
Er wollte ihr keine Vorwürfe machen.
Irgendwann würde sie es besser wissen.
Begreifen.
Warum auch darüber aufregen.
Sein Bruder war tot!
Mein Gott!
Er musste das erst realisieren.
Was kümmerte ihn da eine hysterische Frau!
Er zündete sich mechanisch eine Zigarette an.
Aber er wurde nicht ruhiger.
Hastig inhalierte er den Rauch.
Der Schmerz zerfraß ihn innerlich!
Fritz ist tot! Seine Augen standen in Tränen…

Super schaust aus, Papa.
Karl, sein Sohn,  grinste unverschämt.
Da werden’s lachen!
Fritz nickte.
Ihm war noch immer schlecht.
Und da war dieser Druck auf der linken Brustseite.
Heute musste er aber noch durchhalten.
Heute noch.
Fahren wir, Papa?
Fritz gab sich einen Ruck.
Fahren wir!
Das Lokal war nur wenige Minuten weg.
Seine Mitarbeiter empfingen ihn.
Fritz zahlte sofort eine Runde.
Die Leute tanzten.
Spritzige Musik lief.
Und schließlich Jazz Gitti.
A Wunder!
Die Leute johlten.
Sie standen auf.
Klatschten.
Machten ihrem Chef Platz.
Fritz stand auf.
Begann zu tanzen.
Playback zu singen.
Er tanzte für sein Leben.
Er sah die johlende Menge um sich.
Die lachenden, fröhlichen Gesichter.
Sie feuerten ihn an.
Er gab, was er konnte.
Und mehr.
Bis ihn etwas krampfartig an den Hals zu fassen schien.
Er bekam keine Luft mehr…

Vivienne

Link: Alle Beiträge von Vivienne

 

Schreibe einen Kommentar