von Vivienne – Jänner 2004
Ronnie
Es war schon dunkel draußen auf der Straße.
Der Wind frischte empfindlich auf und es regnete leicht.
Agnes war das gleichgültig.
Ihr Haar war zerrupft.
Aufgewühlt wie ihre Seele.
Ihre Jacke trug sie offen.
Die Kälte spürte sie trotzdem nicht.
Auch nicht die Regentropfen.
Sie mischten sich mit den Tränen, die ihr über die Wangen liefen.
Unablässig.
Im Dunkel des Abends war die Verzweiflung in ihrem Gesicht kaum zu erkennen.
Dabei war Agnes mit ihren Kräften am Ende.
Dabei dachte Agnes daran zu sterben…
Dabei dachte Agnes an Ronnie…
Ihre Gedanken schweiften schmerzhaft zurück.
Drei, nein vier Jahre musste es her sein, dass sie Ronnie kennen gelernt hatte.
In einem Linzer Lokal, in der Altstadt.
Agnes war mit ihrem Bruder unterwegs gewesen.
Er, Ronnie, war ihr sofort aufgefallen.
Mittelgroß, blond und diese herrlichen blauen Augen.
Viel später war Agnes einmal klar geworden, dass sie sich schon damals in ihn verliebt hatte.
So bewunderte sie ihn nur von der Ferne.
Ihn, der nur einen flüchtigen Blick für sie übrig hatte, als sie durch gemeinsame Bekannte vorgestellt wurden.
Sie, die farblos war und etwas zu dick und unansehnlich in ihren Jeans wirkte.
Agnes blieb stehen.
Mit zitternden Händen zündete sie sich eine Zigarette an.
Der inhalierte Rauch beruhigte nicht wie sonst.
Sie begann zu husten.
Sie hustete sich das Leid aus dem Körper.
Für einen Moment versiegten die Tränen.
Aber als ihre Lungen sich erholt hatten, kam die Erinnerung wieder.
Sie lehnte sich an die Mauer, bei der sie stehen geblieben war.
Unfähig, die Gedanken zurückzuhalten…
Etliche Monate und ihre verlorene Unschuld später hatte sie ihn wieder gesehen.
Mit dem anderen Burschen war sie längst nicht mehr beisammen.
Sie erkannte Ronnie sofort wieder.
Diesmal sah er sie nicht nur oberflächlich an.
Agnes hatte ihr erstes selbstverdientes Geld bekommen und konnte ihn einladen.
Ronnie sagte nicht nein.
Er küsste sie sogar.
In den frühen Morgenstunden ging er dann aber doch mit einer dunkelhaarigen, vollbusigen Tussi heim.
Das tat ihr damals nicht weh.
Zumindest nicht wirklich.
Damals begann Agnes zu träumen von ihm.
Zu Träumen von seinen starken Armen und seinen blauen Augen.
Eines Tages wirst du mir gehören! sagte sie sich.
Agnes fühlte an ihre Wange.
Kaum sichtbar befand sich dort eine kleine Delle.
Das Selbstmitleid kam wieder über sie.
Agnes gab sich keine Mühe, die Tränen wegzuwischen.
Es waren zu viele.
Langsam ging sie weiter.
Sie wusste nicht wohin sie wollte.
Heim gehen?
Wo war das daheim?
Fast unbewusst glitt ihr Blick über ihren Körper.
Fühlte prüfend über ihren Bauch und die zu dicken Schenkel.
Wer wollte schon so ein Mädchen wie sie…
In der Folge sah man sich öfter in diversen Disco-Tempeln.
Samstagnacht, das war ihre Nacht.
Agnes arbeitete in einem Geschäft.
Sechs Tage in der Woche war sie Sklavin, wie sie immer sagte.
Obwohl ihre Chefin nett war.
Sie verstand, dass Agnes leben wollte.
Sagte sie zumindest.
Einmal besuchte Ronnie Agnes im Geschäft.
Sie fühlte sich ganz toll, als die Kolleginnen glaubten, er wäre ihr Freund.
Da machte es wenig aus, dass er nur gekommen war um sich Geld zu leihen.
Ronnie hatte Pech gehabt.
Und sie glaubte ihm das, weil er sie bisweilen auch für eine Nacht zu sich heim nahm.
Aber seine Freundin durfte sie nicht werden.
Ich lass mich nicht knebeln, versteh das!
Das bekam sie immer wieder zu hören, wenn sie ihn drängte, wann sie endlich ganz zu ihm ziehen könnte.
Die Zeit arbeitet für mich, dachte Agnes.
Er braucht mich, er weiß es nur nicht.
Planlos lief Agnes weiter.
Ihre Augen schwammen in Tränen.
Sie konnte fast nichts mehr erkennen.
Und sie war so müde, ihre Schritte stolperten.
Ein Hupen riss sie aus dem Schwarz ihrer Gedanken, in das sie beinahe eingetaucht wäre.
Mit quietschenden Bremsen blieb ein Auto vor ihr stehen.
Die Lichter waren aufgeblendet.
Ein Mann riss die Autotür auf.
Er trug eine Brille.
Gleich wird er los schreien, dachte Agnes gleichgültig.
Hätte er mich doch überfahren!!!
Ist Ihnen was passiert? fragte seine besorgte Stimme.
Ich hätte Sie beinahe übersehen.
Sie sehen nicht gut aus.
Soll ich einen Arzt rufen?
Der Mann musterte sie prüfend.
Agnes wiederholte seine Worte in Gedanken.
Der Mann war nicht wütend.
Der Mann war freundlich.
Ronnie wollte sich also nicht binden.
Aber Agnes hatte immerhin seinen Wohnungsschlüssel.
Zum Saubermachen.
Und ab und zu um süße Nächte mit ihm zu verbringen.
Aber sie war nicht die einzige.
Zufällig war sie vorhin in seine Wohnung gekommen.
Um die Vorhänge aufzuhängen, die in der Reinigung gewesen waren.
Zum falschen Zeitpunkt.
Eine Blonde räkelte sich mit Ronnie im Bett.
Ronnie hatte zu schreien begonnen, als Agnes die Schlafzimmertür geöffnet hatte.
Einen Faustschlag und ein paar Ohrfeigen später flüchtete sie wieder aus seinen vier Wänden.
Ronnie ließ sich doch knebeln, nur halt nicht von ihr.
Sie, Agnes, war die Frau fürs Grobe.
Für seine Schmutzwäsche und zum Staubwischen.
Und wenn er dringend Geld brauchte.
Und seinetwegen war sie todunglücklich und dachte ans Sterben????
Der Autofahrer stand noch immer vor Agnes.
Kann ich Ihnen irgendwie helfen?
Der Mann lächelte noch immer.
Er war besorgter um sie, als es Ronnie jemals war.
Obwohl er sie gar nicht kannte.
Ich will leben! dachte Agnes.
Gewidmet einem lieben Menschen…
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