von Vivienne – Dezember 2004
Alina
Kurt saß in seinem bequemen Stuhl.
Die Füße von sich gestreckt.
Neben sich eine Flasche Bier.
Er starrte auf den Boden.
Wortlos.
Sein Gesicht war grau.
Seine ganze Haltung drückte Schmerz aus.
Nicht körperlichen Schmerz.
Nach vorn gebeugt wirkte er fast wie ein alter Mann.
An der Tür läutete es.
Bewegung kam in den hageren Körper.
Kurt sah auf die Uhr. Dann verlor sich sein Blick wieder im Nichts.
Stimmengemurmel hinter der Tür.
Jemand klopfte.
Kurt?
Kurt, bist du da?
Möchtest du uns nicht öffnen?
Dumpf tönte die Männerstimme hinter der Tür.
Kurt reagierte nicht.
Fünf Minuten später war es wieder ruhig.
Kurt nahm einen Schluck vom Bier.
Es schmeckte ihm nicht.
Aber er trank trotzdem.
Um einfach irgendwas zu tun.
Ein paar Tränen schossen ihm aus den Augen.
Plötzlich tauchte wieder Alinas Bild vor ihm auf.
Alina
Spät in der Nach war er unterwegs gewesen.
Ein Freund hatte ihn einen Häuserblock entfernt von der Wohnung abgesetzt.
Er hatte einiges getrunken.
Und war ziemlich müde.
Aus dem Nichts war plötzlich dieses Mädchen aufgetaucht.
Langes dunkles Haar.
Intensiv grüne Augen.
Sie hatte ihm zugezwinkert.
Und ihm ans Hemd gefasst.
Eine eindeutige Situation.
Spontan hatte er sie mitgenommen.
In seine Wohnung.
Dort stellte er nicht nur fest, dass sie höchstens zwanzig war.
Es fehlten ihr auch drei Zähne im vorderen Gebiss.
Unfall mit Fahrrad.
Alina zuckte mit den Achseln.
Ihr Lächeln wirkte fast scheu.
Sie sprach nur gebrochen deutsch.
War sie nicht aus Polen?
Kein Geld.
Keine Arbeit.
Wer stellt jemanden mit so einer Zahnlücke ein?
Sie war erst zwei Jahre in Österreich
Ganz allein.
Zuerst ließ er sie ein Bad nehmen.
Zuviel Schmutz!.
Kurts Augen leuchteten kurz in der Erinnerung.
Als er das Mädchen abtrocknete.
Bewunderte die makellose weiße Haut.
Schließlich schlief er mit ihr.
Ein seltsames Gefühl.
Eine so begehrenswerte junge Frau schlief mit ihm!
Dem langweiligen Kurt!
Lachte ihn an mit ihrer Zahnlücke.
Starrte auf das reichliche Frühstück.
Als wäre Weihnachten.
Er gab ihr kein Geld.
Er ließ sie lieber bei sich wohnen.
Und noch am selben Abend beschloss er ihr zu helfen.
Zuerst hatte sie ihn noch ungläubig angestarrt.
Neue Zähne?
In Tschechei?
Ihr gebrochenes Deutsch war wirklich süß.
Ihre leuchtenden Augen ließen ihn sich größer fühlen.
Stärker.
Besser.
Bedeutender.
Edel.
Zwei Wochen später brachte er sie zum Bahnhof.
Mit mehr als zweitausend Euro.
Seinen Ersparnissen.
Einer Adresse und einer Telefonnummer von einer Zahnklinik in der Tschechei.
Ruf an, wenn du dort bist.
Kurt drückte Alina ein Handy in die Hand.
Alina strahlte ihn an.
Unschuldige Augen wie ein Kind unter dem Weihnachtsbaum!
Bei der Heimfahrt hatte er sich gut gefühlt.
Gut wie schon eine ganze Zeit nicht.
Sein Leben hatte wieder Sinn.
Das erste Mal seit der Trennung von Monika.
Endlich ein Mädchen, das ihn anbetete.
Glücklich, dass jemand gut zu ihm war.
Unglaublich viel mitgemacht.
Und dankbar für jedes gute Wort.
Für seine Liebe
Drei Wochen später kam sie zurück.
Ein neuer Mensch.
Mit neuen Zähnen.
Selbstbewusst.
Glücklich.
Und noch viel dankbarer, als er erwartet hatte.
Endlich ging er wieder unter Leute.
Denn er hatte etwas herzuzeigen.
Eine wunderschöne Freundin.
Hinter der sich die Leute umdrehten.
Plötzlich war er jemand
!
Nicht länger der unscheinbare Mann.
Nicht länger allein
Über zwei Monate war er mit ihr beisammen.
Alles schien so perfekt.
Bis zu diesem Nachmittag als sie bummeln waren.
Spaßhalber in ein Reisebüro gingen.
Lanzarotte!
Kurt ließ sich ein Angebot machen.
Aber nur so.
Er hatte kein Geld.
Sein Konto war überzogen.
Es kostete Geld, Alina zu verwöhnen
Alina hatte zuerst aufgestampft.
So kannte er sie gar nicht.
Nie zuvor hatte er ihr einen Wunsch abgeschlagen.
Und irgendwie war sie danach anders.
Im Bett merkte er es am deutlichsten.
Sie wirkte kalt
Eine Woche später kam er von der Arbeit heim.
Alina war weg.
Ihre Kleider.
Ihr Schmuck.
Ihr Handy.
Und auch seines.
Auf dem Tisch lag ein Zettel.
Du nix Geld
Alina war doch nur ein Luder gewesen.
Er erinnerte sich an ihr erstes Zusammentreffen.
Sie hätte sich an ihn verkauft.
Wie an andere zuvor.
Und im Grunde war es ihr nur um sein Geld gegangen.
Ohne Geld war er ihr egal
Kurt stand auf.
Er fror.
Trat zum Fenster.
Blickte in die Nacht hinaus.
Dann ließ er das Rollo hinunter.
Nein.
So konnte er sich nicht mehr vor seinen Freunden blicken lassen.
Nie mehr.
Diese Blamage!
Er spürte die Häme förmlich.
Und das Gelächter.
Er konnte diese Schadenfreude nicht ertragen
Kurt presste die Lippen aufeinander.
Niemals.
Er ließ sich nicht auslachen!
Alina war weg.
Und er war wieder der Durchschnittsmann.
Den keiner ernst nahm
!
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