von Vivienne – Juni 2004
Kalorien zählen…
Was für ein Tag! Ich hätte fast verschlafen, weil ich beim Fernsehen eingeschlafen war und dadurch vergessen, den Wecker zu stellen. Somit war ich spät dran, außerdem regnete es schon wieder. Als ich mich hektisch nach unten bückte um die Schuhe zuzubinden, hörte ich plötzlich ein verdächtiges Geräusch und meine Hose war auf einmal so angenehm weit. Geschockt begutachtet ich, wie die Naht der Hose durch die schnelle Bewegung einfach auseinander gegangen war. Himmel, ich welchem Film war ich da eigentlich?
Es kostete mich zwei Minuten, eine andere, ungebügelte Jeans vom Wäschetrockner zu greifen, mich vorsichtig hineinzuwursteln und dann noch rasch in Ballerinas ohne irgendwelchen Schnick Schnack zu schlüpfen. Dann hatte ich sogar noch daran gedacht, den Regenschirm zu greifen Im Zug ich hatte ihn gerade noch erwischt – atmete ich schwer und tief durch. Wurde ich schon wieder zu dick? Oder war es nur an der ruckartigen Bewegung gelegen, dass die Naht aufgegangen war?
Ich fühlte mich schuldig, wie sich viele Übergewichtige schuldig fühlen, weil sie zu viel essen, weil sie keinem Schönheitsideal entsprechen. Als ich mich in der Arbeit mit einer Tasse Kaffee trösten wollte, marschierte Babsi, eine Kollegin, mit einem Blechkuchen in die Betriebsküche. Leute, ich hab gestern so viel für meine Lieben gemacht, da hab ich euch was mitgenommen! Greift zu! Mir wurde schlecht und ich schlich mit meinem Häferl zu meinem Schreibtisch. Hatten die alle wirklich nur essen im Kopf? Der Kopf begann mir weh zu tun und ich fühlte mich total demotiviert.
In einer Pause holte ich mir ein Glas Wasser. Babsis Kuchen lachte mich, verführerisch portioniert, an und roch herrlich nach Nuss. Tess, eine andere Kollegin, las angestrengt in einem Buch und wärmte Nudeln mit Gemüse in der Microwelle. Als ich ihr neugierig über die Schulter blickte, erläuterte sie kurz: Weightwatchers! Ich hab in drei Wochen schon fast drei Kilo abgenommen! Entgeistert blickte ich sie an, die Buchstaben verschwammen vor meinem Auge. Übrigens, hast du schon Babsis Kuchen gekostet? Herrlich! Habt mich doch alle! dachte ich mir und verließ die Küche ohne ein Wort. Dreht sich die Welt nur um Essen, Essen, Essen?
Nach der Arbeit bummelte ich durch die Landstraße. Wunderschöne Mode, durchaus erschwinglich, aber für Körper geschnitten, die meinem so absolut nicht entsprachen. Wer schneidert schon für eine Birne? Fast destruktiv zog es mich in das Modegeschäft C&A um mich umzusehen, vielleicht konnte ich mit irgendeinem Kauf meinen Frust abkühlen. Ich musste im Übrigen heute schon den ganzen Tag an Richard denken, diesen Ex-Freund von mir, der mich immer Dickerchen genannt hatte. Was für eine geschmacklose Äußerung! Aber doch lang vorbei, warum zerbrach ich mir über diesen unsensiblen Mann überhaupt noch den Kopf? Was zählte schon, was er vor sieben oder acht Jahren einmal zu mir gesagt hatte?
Mein Gott! Ich stand in der Umkleidekabine und probierte die türkise Leinenbluse, die so apart geschnitten war. Ich sah unmöglich aus, vor allem stand mir die Farbe überhupt nicht zu Gesicht. Außerdem betonte dieses Kleidungsstück alle Pölsterchen, die ich so gerne verbergen würde. Wenn ich es nur könnte! Ich muss abnehmen, dachte ich mir, es kann so nicht weitergehen! Irgendwann wird mir sogar Ali davonlaufen, weil er mich nur mehr durchs Zimmer rollen sieht! Als ich zur Straßenbahn ging, war ich wieder ein paar Komplexe reicher. Wie spät? Gleich halb vier! Albert würde wohl schon auf mich warten
Ali empfing mich in der Tat schon an der Tür. Hallo, mein Schatz! So viel Elan erdrückte mich fast genau so sehr wie seine innige Umarmung, die ich fast wie eine Stahlklammer empfand. Albert schien nichts zu bemerken. Er nahm mich an der Hand und führte mich in die Küche. Auf dem Tisch lagerten die größten lukullischen Spezialitäten. Ali zeigte mir alles. Schau her, Torte für den Nachtisch, Pizzateig, dazu Mozzarella, Salami, Mais, Schinken, wir machen uns alles selbst Ich folgte seinen Ausführungen völlig verdattert. Der Hunger tobte in meinen Eingeweiden, weil ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte.
Warum ausgerechnet heute? Warum heute, wo ich mich bei jedem Bissen wieder völlig frustriert fühlte, weil ich glaubte, eine Tonne zu wiegen? Albert hatte sich so eine Mühe gemacht, und ich wusste genau, ich konnte ihm einfach nicht sagen, dass ich heute nicht konnte Ali beobachtete mich. Am liebsten hätte ich geweint, aus purem Selbstmitleid. Mein Freund nahm mich bei der Hand. Blöder Tag gewesen? Blöder Tag gewesen! antwortete ich leise. Dann schütte ich mein Herz aus. Ali hörte zu, ohne ein Wort, nur ab und an schmunzelte er. Meine Hand hielt er noch immer.
Wie kommst du eigentlich auf den Gedanken, ich könnte dich verlassen? So wie dieser Richard? Was denkst du überhaupt noch an den Kerl? Er streichelte meine Wange und küsste mich. Du hast die wunderschönsten Augen, die ich je gesehen habe, und deine Lippen sind erotischer als bei jeder anderen Frau, die ich kenne! Das sind Worte die eine Frau braucht, speziell in solchen Krisen. Wir kochten also zusammen, wir schlemmten zusammen und wir schliefen gemeinsam auf der Couch bei irgendeinem uninteressanten Film ein, Arm in Arm.
Beim Frühstück am nächsten Tag, brachte Ali das Gespräch noch einmal auf meine Komplexe. Weißt du, Vivi, für mich musst du es ja nicht tun, das weißt du, aber wenn du selber so drunter leidest . Warum gehst du nicht zwei-, drei Mal die Woche in ein Fitnesscenter? Na? Ich sah Ali sprachlos an. Dann legte ich das Semmerl hin und holte tief Luft. Ali, ich hasse Fitnesscenter, jeder Narr läuft heutzutage in Fitnesscenter um sich einem Jugendwahn zu unterwerfen Ali unterbrach mich. Es geht nicht um den Jugendwahn, es geht um dich. Glaubst du, ich merke nicht, wie unglücklich du wegen deiner Figur bist? Sieh es bitte nicht als Mittel zum Jugendwahn, sieh es einfach als Kur, als Medizin. Und ich weiß, dass es dir schon gut tut, wenn du Sachen kaufst, die ein paar Nummern kleiner sind. Tu dir einfach was Gutes!
Alis liebevolle Worte brachen meinen Widerstand, meine ganzen Vorbehalte. Gut ich überleg mirs! Wahrscheinlich sogar hast du Recht. Weißt, was ich mich frage Ich sah Ali mit einem warmen Lächeln an. womit hab ich dich überhaupt verdient? Mein Freund lachte laut auf und grinste schelmisch zurück. Ich brauche dich einfach , das ist der Grund, aber wenn du mich das noch mal fragst, überleg ich es mir vielleicht doch noch! Ich zeigte Ali die Zunge, und warf das Kissen nach ihm – er hatte schon ein Talent eine romantische Situation völlig zu veralbern!
Link: Alle Beiträge von Vivienne