Neue Bohnen Zeitung


von Vivienne  –  Jänner 2004



Eine Frage der Ehre

Ehre ist ein viel zitierter, um nicht zu sagen ein viel malträtierter Begriff. Ehre – darunter versteht doch fast jeder etwas anderes, der Begriff selber ist fast ein wenig nebulos und wirkt ziemlich deplaziert in einer Gesellschaft, die fast schon ohne Genierer lebt: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.“ In der Tat, es wird einem nicht leicht gemacht, sich an gewisse Skrupel, an wichtige eigene Ehrbegriffe und Ähnliches im 21. Jahrhundert zu halten, weil man sonst als verschroben oder altbacken verschrien ist. Manche Leute schaffen es aber trotzdem, ihrem Ehrgefühl zu folgen ohne sich einen Deut den Kopf darüber zu zerbrechen, was die Leute von ihnen denken. Und stellen Sie sich vor, liebe Leser, irgendwann gibt’s dann Zeitgenossen, die das begreifen und den Hut ziehen – angesichts von so viel Rückgrad…

Es ist ein paar Monate her, da war ich mit Albert auf dem Heimweg von einem Wochenendbesuch bei meinen Eltern. Wenn wir bei mir daheim in der Provinz sind, bleiben wir üblicherweise immer das ganze Wochenende und übernachten in meinem alten Zimmer, sprich „Refugium“. Ich bin mir nicht ganz  sicher, was Ali von diesen Visiten hält, seine Eltern leben schon lange nicht mehr und Geschwister hat er keine, weswegen ich immer befürchte, dass er mit meiner übergroßen Verwandtschaft etwas überfordert ist. Aber falls es doch etwa so in der Richtung sein sollte  – er lässt sich nie was anmerken, und meine Familie findet ihn eigentlich sehr sympathisch.

Als wir jenes Wochenende von meinen Eltern fort fuhren, war mir nicht ganz gut gewesen, und kurz vor Linz meinte Ali besorgt zu mir: „Du wirst echt immer blässer, Vivi! Was ist los?“ Ich wusste es selber nicht, ich hatte Bauschschmerzen und mir war schlecht. Ein Virus? Kurz entschlossen fuhr Ali von der Bundesstraße ab und steuerte ein kleines Wirtshaus in der Nähe des Bahnhofs an. Dort suchte ich als erstes gleich die Toilette auf, weil ich mich übergeben musste. In der Zwischenzeit hatte Ali im Wirtshaus einen Tee für mich geordert und in seinen Taschen ein leichtes Kreislaufmittel gefunden, das ich auf seine Anordnung hin einnehmen musste.

„Na, geht’s schon besser?“ lächelte mich Ali aufmunternd an und streichelt sanft meine Wange. Ich hätte das nicht behaupten können, aber wenigstens war mir klar geworden, dass ich mir eine Bauchgrippe eingefangen hatte. In der Arbeit war letzte Woche eine Kollegin deswegen in Krankenstand gegangen, der Zusammenhang war mir rasch klar geworden. Ich wollte allerdings keinen Tee trinken, ich hatte auch keine Lust, mich – wie Albert meinte –  in dieser Gaststätte ein wenig zu regenerieren, aber ich war zu müde um zu protestieren. Und Albert meinte es schließlich nur gut, daran bestand keinen Zweifel.

Der heiße Pfefferminztee tat mir wirklich gut, und schließlich konnte ich sogar ein wenig grinsen, als Ali mich sanft aufzog. Als er meinte, die Dame am Nebentisch würde mich so intensiv beobachten, hielt ich es zuerst auch für einen Scherz. Aber er widersprach, und in der Tat sah mich die junge Frau, die mit einem etwa 8jährigen Mädchen und einem Mann in den Dreißigern einige Meter von uns das Mittagessen einnahm, ziemlich interessiert an. Ich erwiderte den Blick, konnte aber zuerst nichts mit dem unscheinbaren Gesicht anfangen. Nein, wahrscheinlich war ich einfach nur so blass und deshalb musterte mich diese Frau so neugierig.

Ich wandte mich wieder ab und unterhielt mich weiter mit Ali, aber mein Unbewusstes beschäftigte sich anscheinend doch stärker mit dieser Person. Denn plötzlich mitten im Gespräch mit Ali hatte ich plötzlich ein Klassenfoto meiner jüngsten Schwester Natalie vor Augen, und direkt neben Natalie stand ein Mädchen, dunkelbraunes, strähniges Haar, leichte Hasenzähne und die selbe sommersprossige Nase. Ich unterbrach mich: „Natürlich, jetzt weiß ich es wieder! Margit Bauer, mit der Nate zur Schule gegangen ist!“ Ali sah mich im ersten Moment verständnislos an, dann begriff er. „Du kennst sie doch? Kein Wunder, dass sie dich die ganze Zeit so aufmerksam angesehen hat.“

Während Alberts Worten  war mir die ganze Geschichte Margits wieder eingefallen. Ja, sie hatte viel unter ihrem unscheinbaren Äußeren gelitten, sie entsprach keinem gängigen Schönheitsideal und war für Burschen deshalb nie wirklich interessant gewesen, aber – das stand für mich fest – sie hatte Charakter, diese Frau. Hut ab! Ich sah mir ihre blonde Tochter – denn das Kind neben ihr war sicher ihres – etwas genauer an und stellte fest, dass sie ihrem Vater nicht unähnlich war. Denn den hatte ich auch einmal gekannt. Aber bei dem anderen Mann, der neben ihr und dem Kind saß, handelte es sich nicht um den Kindesvater sondern unzweifelhaft um die neue Liebe in ihrem Leben. Hoch gepokert und gewonnen, dachte ich mir anerkennend.

Ali, auf  den ich in diesem Moment vergessen hatte, legte seine Hand auf meine und meinte mit leicht ironischem Unterton: „Der Mann gefällt dir doch nicht etwa?“ Ich musste lachen. „Nein, Ali, pass auf, diese Schulkollegin von Nate ist eine sehr interessante Frau.“ Während ich in  die Taschen greifen wollte, um meine Zigaretten herauszuholen, zog Ali meinen Arm zurück. „Nicht in deinem Zustand, Viv. Erzähl mir lieber, und hol nicht immer so weit aus.“ Ali grinste unverschämt. „Nur die Fakten.“ Ja, Albert kannte meine Schwächen gut, besser als jeder andere, und deshalb  nahm ich den leichten Seitenhieb auch ohne Kommentar hin.

Während ich mich im Sessel zurücklehnte und die Hände verschränkte, kehrte ich wieder in die Zeit meiner Rückkehr von Salzburg zurück. Ich hatte damals in Linz zu arbeiten begonnen und meine jüngste Schwester, unser Nesthäkchen Natalie, begann mit der Handelsschule am Linzer Auhof. Zeitweise war damals auch eine Schulkollegin von ihr bei uns, eben jene Margit, die eine Bürolehre in Mauthausen ergattern hatte können. Die Freundschaft hielt längere Zeit noch nach der Pflichtschule, und etwa zu derselben Zeit, als ich in ein Linzer Meinungsforschungsinstitut wechselte, hatte Margit das Glück, als Karenzvertretung in unserem Gemeindeamt anfangen zu können, wie mir Nate nicht ohne Stolz erzählte.

„Mich beeindruckte das weniger“, gab ich Ali gegenüber zu. „Dafür fiel mir beim Fortgehen mehrmals auf, dass Margit in unserm Lokal im Ort öfter anzutreffen war und sich einem jungen, gut aussehenden Mann im Alter von Jaqueline, meiner anderen Schwester, an den Hals warf. Auf rührende Weise und ohne Erfolg, das Mädel war unglaublich verliebt, Ali.“ Meine Lippen fühlten sich spröde und trocken an, wie ich merkte. „Und diese Liebe war so hoffnungslos. Stefan Thaller, wie der junge Mann hieß, war der Sohn des Gemeindearztes der Nachbargemeinde, Dr. Wolfram Thaller, und seine Frau war die Schwester unseres damaligen Bürgermeisters. Der junge Mann hatte die besten beruflichen Aussichten, er studierte nämlich nach der HTL Architektur.“

„Schön, wie du das immer alles weißt!“ sparte Ali nicht mit leichter Ironie wegen meiner detailgetreuen Erzählung. „Aber ich nehme mal an, so ganz einseitig dürfte diese Liebe dann doch nicht geblieben sein, sonst würdest du mir das nicht so genau berichten.“ Ich grinste unverschämt zurück. „Richtig. Normalerweise, musst du wissen, hat er das Mädel nur verarscht und durch den Kakao gezogen. Aber einmal war der junge Mann so betrunken, dass im Sommer zwischen den beiden, irgendwo auf einer frisch gemähten Wiese in der Siedlung doch etwas passiert ist. Stefan konnte sich zwar kaum mehr an die Nacht mit Margit, die für ihn völlig bedeutungslos war, erinnern. Aber das Mädel war schwanger geworden von ihm.“

Ali verkniff sich diesmal die sarkastischen Bemerkungen. „Wie hat denn die Familie des Herrn Sohn reagiert?“ Ich musste unwillkürlich lachen. „Die hat getobt, mein Herz. Vor allem die Frau Mama, die ja so auf Standesdünkel achtet, konnte ihr Entsetzen kaum verbergen. Ihr Sohn, mit so einem „gewöhnlichen“ Wesen – unglaublich. Diese Dame war „not amused“, um es im Stile des englischen Königshauses auszudrücken.“ Ich blitzte Albert mit amüsiertem Blick an und registrierte dabei nicht einmal wirklich, dass mir der Bauch schon lange nicht mehr weh tat. „Die Hochzeit wurde angesetzt, ohne dass einer der Beteiligten jungen Leute überhaupt wirklich gefragt wurde – wie in der guten alten Zeit. Und fünf Monate später kam die Tochter der beiden zur Welt, per Kaiserschnitt und fünf Wochen zu früh.“

„Danke, Frau Doktor“, kommentierte Ali die Details trocken. „Und wie waren das Geburtsgewicht und die Länge des Babys?“ Ich ließ den Sarkasmus’ Alis an mir abgleiten. „Da der junge Vater noch studierte und die junge  Mutter in Karenz war, wohnte das unfreiwillige Paar bei den Eltern, was – Nates Erzählungen nach, die weiter mit ihrer Schulkollegin in engem Kontakt stand – für Margit wirklich schlimm gewesen sein muss.“ Während meiner Erzählung hatte ich immer heftiger zu gestikulieren bekommen, weil ich mich mehr und mehr an die Geschichte erinnern konnte. Wie ein Buch, in dem ich zu blättern begonnen hatte…

„Schließlich ist ein Familienstreit eskaliert. Sinnigerweise kurz vor Weihnachten. Margit hatte die ständigen Demütigungen vor allem durch die Schwiegereltern satt und als die Frau Großmama schließlich sogar einmal anmerkte, im Grunde wisse man ja gar nicht, ob der Filius wirklich der Vater des Kindes sei, hat es Margit gereicht.“ Albert sah mich interessiert an, während ich ihn auf die Folter spannte. „Ist sie wirklich ausgezogen?“ wollte er fast drängend wissen. „Darauf darfst du Gift nehmen!“ antwortete ich. „Und auf der Suche nach einer Bleibe für sich und das Kind war sie sogar eine Nacht im Frauenhaus in Linz. Frau Schwiegermama ist fast explodiert.“

Versonnen blickte ich an die Decke des Lokals. „Auch die Nachwehen dieser Beziehung waren schmutzig. Dr. Thaller versuchte seine Schwiegertochter mehrfach zur Rückkehr zu bewegen, zuerst sanft, dann mit Druck und schließlich, in dem er die Vaterschaft seines Sohnes leugnete. Aber einem Vaterschaftstest hielten diese Lügen nicht stand, das Ergebnis war eindeutig. Die Ehe wurde schließlich doch geschieden, Stefan Thaller, der heute als Architekt in einem großen Büro in Niederösterreich arbeitet, hat bisher nicht wieder geheiratet, was ich weiß.“

„Weißt du, Albert“, fuhr ich fort. „Mir hat das unheimlich imponiert, wie die Margit das durchgezogen  hat. Sie ist mir kaum mehr in Erinnerung gewesen, ehrlich, ein farbloses Mädel, und eher durchschnittlich in ihrem Äußern. Aber nicht im Charakter.“ Ali nickte. „Ich versteh, was du meinst, Vivi. Gibt genügend, die legen es darauf an, in eine so genannte „geldige“ Familie einzuheiraten, koste es was wolle um dann die große Dame zu spielen. Aber für diese Margit wäre der Stefan an sich wirklich die große Liebe gewesen. Nur eben nicht so, zwangsweise, weil sie halt schwanger geworden ist, mehr oder weniger zufällig.“ Er holte aus der Hosentasche seine Geldbörse und winkte der Kellnerin.

„Hut ab, muss man sagen!“ fuhr Albert nachdenklich fort. „Das Mädel hat Rückgrad, und sie hat diesen Schritt nicht nur beinhart durchgezogen. Sie ist auch auf die Füße gefallen…“ Ali schmunzelte mit einem Seitenblick auf den Mann an ihrer Seite. „…und sie ist auch nicht allein geblieben. Sieg auf der ganzen Linie. – Aber jetzt, Liebes, werden wir uns schön langsam auf den Weg machen.“ Ich blickte etwas überrascht auf die Uhr. Es war spät geworden. „Unsere Pause hat dir sichtlich gut getan, Vivi. Ich erkenn dich fast nicht wieder.“ Albert strich mir sanft über die Stirn, dann stand er mit einem Ruck auf und nahm mich bei der Hand. „Komm, lass uns fahren.“

Vivienne

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