Neue Bohnen Zeitung


von Vivienne  –  Mai 2004



Blut ist dicker als Wasser?

Den meisten unter Ihnen, liebe Leser, dürfte bekannt sein, dass ich aus einer großen Familie stamme. Acht Geschwister, vier Buben und vier Mädchen entstammen den zwei Ehen meines Vaters, und auch wenn es in der Vergangenheit immer wieder Rangeleien gab oder zwischenmenschlich Fehler gemacht wurden: wir halten im Wesentlichen alle zusammen, ja, die Verbundenheit unter uns allen ist heute stärker als je zuvor. Wir sind eine Familie und einer ist für den anderen da, wenn es nötig ist und in dem Ausmaß, in dem es ihm möglich ist…

Dass eine derartige Situation nicht unbedingt der Norm entspricht, war mir natürlich trotzdem immer klar. Auf eine Familie zählen zu können, das ist ein Luxus, der nicht jedem in den Schoß gelegt wird. Wie sehr aber der alte Spruch bezüglich „Blut und Wasser“ (wie im Titel angeführt) ad absurdum geführt werden kann, habe ich erst erfahren, als mir mein Schwager Luis einmal genauer erzählte, wie es dazu kam, dass seine Eltern mit ihm und Bruder Luigi von Wels ins schöne Mühlviertel übersiedeln mussten…

Louis Großmutter, Cecile, war früh verwitwet. Ihr Mann hatte in Wels eine große Schneiderei mit etlichen Mitarbeitern betrieben. Seine beiden Söhne hatten zunächst wenig Interesse an der Leitung des Unternehmens gezeigt, so war es fast selbstverständlich gewesen, dass Louis’ Vater Pierre, der Ehemann der ältesten Tochter Eline, den Betrieb übernommen hatte. Der Schwiegervater war schwer am Herzen erkrankt, ein wenig ein Choleriker, der mit  seinen Leuten wie der Familie nicht immer sehr fair und freundlich umgegangen war.

Mit Sechzig Jahren ging er schweren Herzens aus gesundheitlichen Gründen in Pension, aber Pierre wurde mit seiner neuen Position gut fertig. Er selber hatte im Betrieb des Schwiegervaters gelernt und kannte die Firma wie seine Westentasche. Als sein Schwiegervater kurz nach dem Pensionsantritt an einem Infarkt starb, hatte er den Betrieb fest im Griff. Laut Testament hatte zwar die Schwiegermutter, Cecile, die Hand auf der Schneiderei, was aber de facto nichts daran änderte, dass Pierre die Entscheidungen traf und das sehr umsichtig und professionell.

Über viele Jahre gab es auch keinerlei Turbulenzen. Zwei Söhne wurden geboren, Louis und Luigi, der ja behindert ist, und auch wenn angesichts der wirtschaftlichen Situation und den sich ändernden Ansprüchen der Kunden die Schneiderei gesund schrumpfen musste, ein paar Mitarbeiter abgab und sich auch umstellen musste, lief der Betrieb sehr gut. Bis es zum Zwist unter Elines Geschwistern kam. Zum einen wollten Elines Brüder und die eine Schwester, samt ihren Familien, plötzlich ausbezahlt werden, zum anderen hatte der ältere Bruder, Riccardo, plötzlich selber Ambitionen auf die Schneiderei.

Gemeinsam  mit seiner Frau setzte er seiner Mutter einen Floh ins Ohr, intrigierte heftig und umschmeichelte die alte Frau gleichzeitig so sehr, dass diese Pierre und seine Familie von einem Tag auf den anderen aus der Schneiderei warf oder besser gesagt werfen ließ: sie sagte es ihnen nämlich nicht selber, sie ließ ganz schön hinterrücks den Notar mit der Polizei anrücken, die Pierre erklärten, er hätte über Zwanzig Jahre den Betrieb widerrechtlich geführt. Trotz mehrmaliger Aufforderung von seitens seiner Schwiegermutter habe er die Firma nicht verlassen.

Pierre und Eline traf fast der Schlag, das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein. Mitnichten, Riccardo hatte sich in der Schneiderei festgesetzt und ließ seinen Schwager mit Polizeigewalt aus der Firma werfen, als Pierre ein paar Tage später kam, um gütlich mit ihm zu reden. Die Folge war ein beinharter Rechtsstreit. Pierre wollte mit Hilfe eines guten Anwaltes beweisen, dass er, erstens, die Schneiderei immer mit Ceciles Einwilligung geführt habe und dass er, zweitens, durch die jahrelange erfolgreiche Tätigkeit einen gewissen Rechtsanspruch an das Unternehmen habe, in das ja auch sein Geld geflossen war.

Cecile wartete, beraten von Riccardo, mit schweren Geschützen auf: Pierre habe das Unternehmen ganz miserabel geführt, wofür der Mitarbeiterabbau als Beweis herangezogen wurde und sie wolle das Geld einklagen, das ihr Schwiegersohn verwirtschaftet habe. Louis Eltern standen also nicht nur von einem Tag auf den anderen auf der Straße, sie hatten kein Einkommen mehr, mussten einen teuren Rechtsanwalt bezahlen und außerdem gegen die absurden finanziellen Ansprüche und gegen die formale Besitzerin der Schneiderei einen wirren Rechtsstreit führen. 

In dieser Situation hatte die Familie dann doch etwas Glück. Ein Linzer Schneider, den Pierre und Eline von Fachmessen kannten, bot ihnen an, Kompagnons zu werden. Er selber hatte vor, sich in den nächsten Jahren zur Ruhe zu setzen und würde sich freuen, wenn seine kleine, aber feine Firma weiterlaufen würde, da er selber keinen Erben hatte. Auch eine vorübergehende Wohnmöglichkeit in Linz fand sich für die Familie und für Louis’ Vater war es wirklich gut, dass er wieder Arbeit hatte, wenn auch in einem kleineren Rahmen.

Der Prozess gegen Schwager und Schwiegermutter geriet zu einer Schlammschlacht sondergleichen. Cecile verunglimpfte unter anderem ihre Enkelsöhne als verrückt, wobei sie sich besonders auf den behinderten Luigi bezog. Trotz aller Bemühungen von Pierres Anwalt ging das Verfahren verloren, aber dieser konnte wenigstens erreichen, dass sich der geforderte Schadenersatz auf einen Bagatellbetrag erstreckte, zahlbar innerhalb von drei Monaten. Eline ließ damals ganz bewusst die geforderte Summe erst am letzen Tag der Frist überweisen…

Bei aller menschlichen Enttäuschung speziell für Eline, gerade durch Bruder und Mutter derart geprellt worden zu sein, kehrte trotzdem wieder Ruhe ein im Hause der Familie. Man fand sich ein hübsches Haus im Mühlviertel, das gekauft wurde, und im Laufe der Jahre wurde die Schneiderei dann in die dortige Bezirksstadt verlegt. Louis lernte meine Schwester Beatrice kennen und lieben und vielleicht interessiert es sie ja, was aus der Welser Schneiderei wurde.

Riccardo agierte sehr glücklos in dem Betrieb, den er sich zur Sicherheit gleich selber überschreiben hatte lassen. Vor zwei oder drei Jahren musste er schließlich Konkurs anmelden. Heute ist die Schneiderei geschlossen und Riccardo sitzt auf dem Trockenen. Seine Mutter ist im letzen Winter gestorben, sie hatte zuletzt Alzheimer, und ich glaube, es erstaunt niemanden dass der Mühlviertler Zweig der Familie beim Begräbnis durch Abwesenheit glänzte. Eline formulierte es so:“ Ich spüre keinen Hass mehr gegen sie, das hätte auch keinen Sinn. Aber warum sollte ich Abschied nehmen von einer Frau, die mir in der schwierigsten Situation unseres Lebens alles andere als eine liebende Muter war, unser Unglück sogar begründet hat? Ich wäre ein Heuchler!“

Blut ist dicker als Wasser? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wichtig sind uns allen Menschen, die um uns sind, ehrlich und aufrecht und voller Liebe und wahrer Gefühle. Ob diese Positionen nun Verwandte oder „nur“ Freunde einnehmen, spielt da eigentlich keine Rolle, finde ich…

Vivienne

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