DIE BUNTE WELT VON VIVIENNE
von Vivienne – April 2003
Von der Verlogenheit unserer Gesellschaft, Teil 2
Wenn zwei dasselbe tun, hat es noch lange nicht dieselben Auswirkungen auf beide. Sie erinnern sich sicher noch an meine Geschichte von dem Hauptschullehrer aus meiner Gemeinde und seiner Kollegin, die ein Verhältnis miteinander begonnen hatten, was vor allem die Frau ausbaden musste. Auch nachdem die zwei ihre Beziehung legalisiert und für klare Verhältnisse gesorgt hatten. Bei uns wird es eben geschätzt, wenn man so tut als wäre alles in Ordnung, auch wenn es hinter den Fassaden kracht. Hauptsache, der oberflächliche Eindruck stimmt nur nichts durchdringen lassen. Am allerschlimmsten, das beschrieb Oscar Wilde so treffend, sind aber die so genannten Moralapostel, die sich selber für das Maß aller Dinge halten und felsenfest überzeugt sind, sie wären immer im Recht und all ihr Tun diene nur der Gerechtigkeit auch wenn es in Wirklichkeit um die eigene Beweihräucherung geht: Was bin ich nicht gut, was bin ich nicht edel!
Im Spätherbst letzten Jahres rief mich mein lieber Cousin Hubert spät abends an. Sigrid hat entbunden, ein gesundes Mädel. Ich bin so froh, dass alles in Ordnung ist. Man hörte Hubert die Erleichterung an der Stimme an, so geschafft er auch nach der 20stündigen Geburt war. Ich freute mich ehrlich für ihn, da störte es mich auch nicht, dass ich gerade erst eingeschlafen war. Hubert und Sigrid hatten ihr erstes Kind und alles war gut gegangen. Etwa 10 Tage später besuchten Albert und ich die kleine Familie in ihrem Haus in der Nähe von Traun. Wir waren schon neugierig, wem die Kleine Marie Theres wohl ähnlich sehen würde, so weit man das bei einem Baby schon mit Sicherheit sagen konnte. Haarfarbe, Augenfarbe, Gesichtszüge alles konnte sich noch ändern.
Als Geschenk hatten wir einen Gutschein eines Linzer Baby-Ausstatters dabei. Ali und ich hatten lange gerätselt, was wir schenken sollten und uns schließlich für diese Variante entschieden, weil die stolzen Eltern da selber auswählen konnten, was das Kind am nötigsten brauchte. Sigrid war noch ein wenig blass, aber sonst gut beisammen. Das Baby war in der Nacht relativ brav, wie sie uns mit leuchtenden Augen erzählte. Marie Theres lag im Kindswagen und schlief und es war wirklich schwierig festzustellen, wem sie nun ähnlich sah zwischen Spitzen und Decken halb versteckt, ließ es sich wirklich nicht sagen. Bei Kaffee und Torte erzählte Sigrid von den Strapazen der Geburt und dass sie sich momentan ein zweites Kind nicht vorstellen könne. Es war eine Tortur, schloss sie, aber ich möchte es auch nicht missen. Sigrid und Hubert blickten sich schweigend an, als hätten sie uns vergessen.
Da begann Marie Theres zu schreien und ihren Hunger zu bekunden, Sigrid nahm das Kleine aus dem Kindswagen und ging ins Schlafzimmer um es zu stillen. Hubert nutzte die Gelegenheit um im Teletext die Sportergebnisse des Tages durchzuschauen. Als er fertig war, blieb er beim Durchschalten bei den Lokalnachrichten hängen. …die Jubilarin, Frau Nicole Grünspecht, feiert heute ihren 60. Geburtstag. Seit mehr als zwanzig Jahren leitet sie erfolgreich die BEFIS-Werke in Steyr, die sie nach dem Tod ihres Gatten, Gustav Grünspecht, 19.. übernommen hat. Zur Feier ihres Ehrentages erhält Frau Grünspecht das Verdienstzeichen des Landes Oberösterreich… Ich war überrascht, als ich feststellte, wie Hubert tellergroße Augen bekam und dem meiner Meinung nach belanglosen Bericht mit großem Interesse folgte. Auch Ali, dem das nicht verborgen geblieben war, warf mir einen fragenden Blick zu. Diese Frau Grünspecht machte einen sehr biederen Eindruck auf mich, sie sah ein wenig aus wie die steirische Landeshauptfrau. Nichts desto Trotz schien ihr Hubert nicht gerade freundlich gesonnen.
Schließlich ging er ins Schlafzimmer, ich hörte nur, wie er Sigrid etwas in der Richtung wie …das musst du dir anschauen… sagte. Sigrid kam mit der Kleinen zurück ins Wohnzimmer und sah dem Rest der Feierlichkeiten zu, bei denen sich Frau Grünspecht schließlich noch im Interview zur ganzen Veranstaltung und ihrer Ehrung äußerte. Sigrid schüttelte den Kopf und legte ihre Tochter wieder in den Kindswagen. Hubert nahm Sigrid kurz in den Arm, aber sie beruhigte ihn: Ich nehme das nicht so ernst. Es gibt Leute, die es sich immer richten können, so oder so, die immer auf die Butterseite fallen. Ist das was Neues? Und die Grünspecht gehört halt auch dazu. Ich muss gestehen, dass ich jetzt schön langsam neugierig wurde. Welcher Zusammenhang bestand denn zwischen einer Geschäftsfrau aus Steyr und der Frau meines Cousins, Sigrid? Aber da fiel mir ein, dass Sigrid ja aus der Nähe von Steyr stammte.
Als hätte sie geahnt, was mich da so beschäftigte, ergriff jetzt Sigrid das Wort. Ich nehme an, dass ihr zwei euch fragt, warum ich mich über diese Verdienstzeichenträgerin eher abwertend äußere… Sie blickte Ali und mich an, während sie nach ihrer Teetasse griff (Sigrid wollte, so lange sie stillte, selber keinen Kaffee trinken!). Sie nahm einen Schluck und behielt dann die Tasse in der Hand. Ich war einmal, als ich ein junges Mädchen war, in der Firma dieser Frau beschäftigt. Das ist etwa 15 oder 16 Jahre her, ich war damals gerade mit der HAK fertig, die ich in Steyr besucht hatte. Mir sind dort ein paar üble Dinge passiert, diese Frau Grünspecht hat sich beispiellose Kompetenzüberschreitungen mir gegenüber herausgenommen, ohne dass sie deshalb dafür zur Verantwortung gezogen worden wäre. Als ich diese Geschichte durchschaute, hat sie sich dann dank ihrer Position vor jeder Rechfertigung gedrückt. Ali und ich schauten uns betroffen an, und ich konnte gut erkennen, dass ihn dieselbe Frage quälte, nämlich was da passiert war, dass Sigrid, die ich als eine sehr ruhige, sachliche Frau kenne, von dieser Frau Grünspecht aus dem Fernsehen ein alles andere als positives Bild zeichnete.
Ich kann euch gern erzählen, was war, aber es ist eine etwas längere und komplizierte Geschichte. Einen Moment, ich setz mir etwas Wasser für eine Kanne auf. Sigrid nahm den Wasserkocher, füllte ihn und schaltete ihn ein. Wie du ja weißt, Vivienne, stamme ich aus Steyr, oder besser gesagt, aus einem Vorort. Wir waren fünf Kinder, ich war die älteste. Mein Vater, dass muss ich hier noch zur Verdeutlichung anführen, hat einen Großteil seiner Jugend im Ausland, in Südafrika verbracht. Als er zurückkam, musst
e er über Jahre Prozesse um sein Erbe führen, was ihm etwas unverdient den Beinamen eines Prozess-Hansls einbrachte. Diese Fakten trugen viel dazu bei, dass wir nicht übermäßig populär in unserer Gemeinde waren. Aber auch rückblickend muss ich sagen, dass mein Vater, ich weiß nicht ob du ihn kennst, das Richtige getan hat. Er wurde halt angefeindet, weil er so viel im Ausland gewesen war, und wenn jemand etwas anders ist als die so genannten normalen Menschen, dann eckt er mit Sicherheit an das liegt aber nicht an ihm sondern an jenen.
Sigrid legte ein Tee-Ei mit Pfefferminztee in die Teekanne und goss mit dem siedenden Wasser aus dem Wasserkocher auf. Der starke Geruch erfüllte die Luft und das Wasser färbte sich gelblich grün. Sigrid griff den Faden wieder auf. Ich selber hab wohl ein wenig von ihm geerbt, vor allem dieses anders sein. Fünf Jahre habe ich die HAK besucht, war eine unauffällige Schülerin, aber einmal, in der fünften Klasse, da stach dieses anders sein ganz deutlich durch. Ich hatte eine Schulkollegin, eine gewisse Simone Prochaska aus Steyr. Eine dunkelhaarige, vollbusige Schönheit, die mit den Burschen spielte, aber ein ziemliches Luder und eine schlechte Schülerin war. Vor einer Schularbeit gab es einen Skandal, weil ein paar Mädchen aus meiner Klasse Prüfungsaufgaben und deren Ergebnisse eingesehen hatten. Simone Prochaska war eine von ihnen,
erwischt worden war aber nur ein einziges Mädchen, Andrea. Diese Andrea hätte den Kopf hinhalten sollen, aber ich hatte zufällig beobachtet, wie die Mädels aus dem Büro des Lehrers gekommen waren. Und ich fand es nicht fair, dass diese dumme Andrea allein zur Rechenschaft gezogen werden sollte. Ich erinnere mich noch gut, wie ich in der Mittagspause zum Schuldirektor ging und ihm alles erzählte. Worauf alle Beteiligten mit einer besonders schweren Prüfung bestraft wurden.
Sigrid lächelt in der Erinnerung. Natürlich würde ich das heute nicht mehr tun, aber ich war als Teenager ein Gerechtigkeitsfanatiker. Das war für mich nicht in Ordnung. Deshalb verriet ich auch die anderen Kolleginnen, ob es nun richtig war oder nicht. Und Simone Prochaska, das verwöhnte Gör, hat mich dafür gehasst. Sie versuchte in der Klasse mit dummen Lügen Stimmung gegen mich zu machen, aber es hat nicht mehr viel genutzt, weil sie ihre betuchten Eltern schließlich von der Schule nahmen, als sie nicht zur Matura antreten konnte. Und ich machte mir keine Gedanken ihretwegen. Ich war davon überzeugt, sie nie mehr zu sehen, und das stimmte auch. Trotzdem hat diese Schulkollegin meine Zeit bei den BEFIS-Werken in Steyr nachhaltig beeinflusst. Eine Lüge ist wie ein Schneeball, zitierte sie Martin Luther, je länger man ihn wälzt, desto größer wird er. Sigrid fischte das Tee-Ei aus der Kanne und legte sie in eine Schüssel. Der Pfefferminzgeruch in der Luft war noch immer ganz stark.
Was ich nicht ahnen konnte, war, dass meine erste Chefin, eben jene Frau Nicole Grünspecht, eine entfernte Verwandte von Simone Prochaska war. Frau Grünspecht war ja die zweite Frau des Firmengründers Gustav Grünspecht und dementsprechend erheblich jünger als er. Und Simone Prochaskas Vater war ein Cousin ihres Gatten, der zwar zu der Zeit nicht mehr lebte, was aber Frau Grünspecht anscheinend nicht hinderte, diese Verwandtschaften zu pflegen. Und irgendwann in diesen ersten Wochen meines Dienstverhältnisses als Bürokraft in der Firma BEFIS muss Simone der Frau Grünspecht ein gigantisches Lügenmärchen über mich aufgetischt haben: ich sei schon lange drogensüchtig, würde mir von allem und jedem Geld leihen oder auch stehlen, um meine Sucht zu finanzieren. Ich würde da nicht lange fackeln. Simone, blindwütig vor Hass, wollte offenbar damit erreichen, dass ich meinen Job bei Frau Grünspecht wieder verliere. Und wahrscheinlich war es auch der erste Gedanke der Frau Grünspecht, mich einfach im Probemonat wieder raus zu werfen, aber dann rührte sich wahrscheinlich und zu meinem Pech ihr edles, anständiges, menschliches Herz oder das, was sie dafür hielt.
Sigrid machte eine Pause und schenkte sich eine Tasse des Pfefferminztees ein. Sie trank ihn immer, wie sie betonte, natur pur: ohne Zucker, ohne Honig, ohne Milch. Ich machte mir meine Gedanken über diese Erzählung, während der ich Albert ein paar Mal angeblickt hatte. Aber er ließ sich nicht direkt anmerken, wie er darüber dachte. Er hielt nur meine Hand und hörte Sigrid zu. Ich selber verspürte vorerst, so seltsam es klingen mag, eine gewisse Erleichterung darüber, dass nicht nur mir ähnliche Dinge widerfahren sondern ganz offensichtlich auch anderen. Hätte mich die Grünspecht einfach rausgeworfen, wäre ich zwar momentan am Boden zerstört gewesen, aber ich hätte sicher schnell etwas anderes gefunden. Aber so hatte sie den Plan gefasst, mich aus dem miesen Milieu, dem ich offensichtlich entstammte, zu entreißen und meine Seele zu retten. Und dafür hatte sie sich ein paar perfide Pläne zurechtgelegt: Nicht nur dass alle Mitarbeiter im Büro über meine angebliche Sucht und mein übles Vorleben informiert wurden, damit sie mir auf die Finger sahen sie hielt meine Kollegen sogar dazu an, meine Jacken, meine Mäntel, ja, meine Tasche täglich zu durchwühlen, ob ich nicht gestohlen hätte oder Drogen bei mir zu finden wären.
Woher weißt du das? unterbrach Ali kurzer Hand Sigrids Redeschwall. Ganz einfach, weil ich die Leute teilweise sogar dabei erwischt habe, wie sie in meinen Jackentaschen suchten. Diese feinen Kollegen, die sich nichts dabei dachten, weil sie nur stupide Befehlsempfänger waren, lieferten mir hilflose Ausreden, warum und wieso. Und ich unbedarftes Mädel, das sich ja keiner Schuld bewusst war, hab das auch noch geschluckt. Die Geschichte wäre an sich ziemlich grotesk, wenn sie sich nicht so verselbständigt hätte. Frau Grünspecht konnte einfach nicht glauben, dass sie mir nichts nachweisen konnte. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, die Märchen ihrer Verwandten Simone Prochaska in Frage zu stellen. Und irgendwie lief ihr die Zeit davon später hab ich einmal herausgefunden, dass sie sogar das Sanatorium schon ausgesucht hatte, in dem ich meinen Entzug machen sollte. Sie, die nicht mehr ganz junge Frau, hatte da ganz romantische Hintergedanken. Ein junger Mitarbeiter in ihrem Unternehmen, Robert Kunze, unauffällig, verlässlich, sehr gescheit und noch hässlicher, muss sich in mich verliebt haben, ohne dass es mir je wirklich aufgefallen war.
Albert räusperte sich leise, ich merkte, dass er gerne eine Zigarette geraucht hätte, es wegen des Kindes aber nicht wagte. Sanft legte ich ihm meine Hand auf den Arm und lauschte weiter Sigrid. Und da sie diesen Kunze, sehr mochte ihr eigener Sohn war vor einiger Zeit bei einem Autounfall ums Leben gekommen wohl als eine Art Kind-Ersatz, war sie vermutlich überhaupt erst auf die Idee gekommen, mich den Drogen zu entreißen und mir mit Kunze die Stütze zu geben, die meinem Leben bisher gefehlt hatte wie sie halt meinte. Kunze sollte aber bald zwecks Schulung in eine Partnerfirma in die Steiermark fahren, für mindestens 1 ½ Jahre, und sie hatte auch nach Monaten, die ich im Unternehmen war, nicht einen klitzekleinen Beweis für meine angebliche Drogensucht oder einen versuchten Diebstahl meinerseits gefunden. Ihr lief die Zeit davon… Frau Grünspecht versuchte in ihren Bemühungen alles, über viel sagende Anspielungen wegen der Sucht (sie wollte mich sogar zu einem Besuch in einer Drogenselbsthilfegruppe überreden) bis hin zu beredten Schilderungen über die Vorzüge von Robert Kunze, dessen Qualitäten als Lebenspartner sie mir in leuchtenden Farben schmackhaft machen wollte sie merkte natürlich genau, dass er mich nicht interessierte sondern ich mich vielmehr in einen Kollegen verliebte hatte.
In Sigrids Augen blitzte es in Erinnerung kurz auf, ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. Aber nicht dass dieser Georg etwas getaugt hätte er hat genau so in meinen Sachen gewühlt wie die anderen. Fort gegangen oder sich mit mir getroffen hat er sich nur, weil ihn Frau Grünspecht darum bat, um mich auszuhorchen aus keinem anderen Grund. Das sind die Dinge die im Nachhinein wirklich wehtun, weil man sieht, wie weit Menschen gehen, wenn sie sich einen Vorteil davon versprechen. Ohne nachzuhaken, ob alles wirklich stimmt. Hätte Frau Grünspecht nicht geplant gehabt, mich mit Robert Kunze zu verkuppeln, wenn ich nur erst meinen Entzug hinter mich gebracht hätte, wer weiß, vielleicht hätte Georg damals sogar mit mir geschlafen, auf Anordnung seiner Chefin, und der Zweck heiligt die Mittel. Na, unterbrach da mein lieber Cousin etwas knorrig weil eifersüchtig. Wir wollen uns da nicht in die Möglichkeiten verlaufen, es ist eh nichts passiert. Unsere Gäste wollen jetzt sicher endlich wissen, wie du hinter diese Intrige gekommen bist. Sigrid strahlte Hubert amüsiert an. Sie waren ein schönes Paar, das wurde mir jetzt wieder bewusst.
Ich hatte schon eine ganze Weile das Gefühl, das in dieser Firma etwas nicht stimmt, fuhr Sigrid mit dieser Episode ihres Lebens fort, aber auf diese Möglichkeit wäre ich nie gekommen. Woher auch? Aber schließlich löste sich das Rätsel überraschend und blitzartig. Ich brach mir an einem Wochenende bei einem Sturz über die Dachbodenstiege das Bein und kam ins Steyrer Krankenhaus. Die Diagnose war ein Riesenschock für mich, noch mehr aber für meine Chefin, die, als sie es erfuhr, sich sofort ins Spital begab, meine behandelnden Ärzte aufforderte, einen Drogentest bei mir zu machen und mich schnellstens in das Sanatorium bringen zu lassen, das vermutlich seit Monaten darauf wartete, mich von meiner angeblichen Drogensucht zu kurieren. Einer der Ärzte stürmte daraufhin in mein Zimmer und befragte mich wie eine Verbrecherin zu meinem Drogenkonsum, bis mein Vater, der mich besuchen kam, dazwischen funkte und ihm nicht nur ordentlich die Meinung sagte sondern auch aus ihm herauskitzelte, was sich die Grünspecht da geleistet hatte. Als ihm mein Vater mit der Zeitung und einigen Klagen wegen Rufmordes drohte, wurde der Arzt schnell zahm, entschuldigte sich und versprach, mich nicht mehr zu behelligen und Frau Grünspecht jede Auskunft über mich zu verweigern.
Sigrid hielt kurz inne um einen Schluck aus ihrer Tasse zu nehmen. So witzig das jetzt klingt, war es aber in dem Moment nicht für mich. Ich war am Boden zerstört, völlig fertig ob dieser infamen Verleumdung und dem Wahn meiner Chefin, die, trotz aller mangelnden Beweise, bis zum Schluss nicht hatte glauben wollen, dass Simone Prochaska in einer Weise gelogen hatte, dass der berüchtigte Baron Münchhausen sich daneben wie ein Waisenknabe ausnahm. Als am selben Tag auch noch Robert Kunze mit Blumen in meinem Krankenzimmer auftauchte, habe ich ihn sofort verjagt und den Strauß warf ich ihm nach, so aufgebracht war ich. Er konnte sicher noch am wenigsten dafür, das ist richtig, aber er hat mitgemacht, wie alle anderen auch, mich vorverurteilt, ohne mir eine Chance zu geben, selber Stellung zu den Behauptungen zu nehmen. Frau Grünspecht ließ sich übrigens nicht bei mir blicken, obwohl ihr mein Vater mit einer Klage und weiteren Rechtsfolgen drohte. Sie war sich zu gut, sich zu erklären, in ihren Augen war ich wahrscheinlich nur ein Niemand, trotz all des Aufwandes, den sie sich zuerst meinetwegen gemacht hatte würdig keiner Entschuldigung. Außerdem ging es um ihren eigenen untadeligen Ruf und an den ließ sie nichts kommen. Meine Reputation hingegen war ihr völlig gleichgültig.
Sigrid lächelte etwas bitter. Die Großen kommen halt immer davon. Mein Vater hat sich bei vielen Rechtsanwälten in der Causa erkundigt, aber alle haben ihm von einer Klage abgeraten, weil die Sache zuwenig durchschaubar war und man davon ausgehen konnte, dass von den Kollegen, die mich bespitzelt hatten, keiner reden würde. Auch wenn mir im Spital, wo ich viel Zeit zum Nachdenken hatte, hunderte Puzzelteile einfielen, die unter diesem Blickwinkel betrachtet, genau in die Geschichte passten. Was mir eine Weile sehr wehtat, war, dass mich Georg kein einziges Mal besuchte, aber er war halt nicht besser als die anderen und offensichtlich war ich ihm so gleichgültig wie Robert Kunze mir. Diese Sichtweise machte mir den Abschied vom Unternehmen leichter. Ich kündigte, kaum dass ich wieder aus dem Spital entlassen worden war, schriftlich, und habe das Gebäude der BEFIS-Werke nie wieder betreten. Marie Theres meldete sich lautstark, sie war wieder wach geworden. Sigrid wickelte ihre Tochter und ich sah ihr zu, wie sie mit flinken Händen die Windeln wechselte, als hätte sie nie etwas anderes getan. Eine unglaubliche Geschichte fürwahr, aber nichts ist so unglaublich wie das wahre Leben. Wer wusste das besser als ich…
Vivienne
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