Neue Bohnen Zeitung


DIE BUNTE WELT VON VIVIENNE
von Vivienne  –  Mai 2003



Es kommt immer anders, Teil 2

Man kann auch diejenigen aus ganzem Herzen lieben, deren Mängel man gut kennt. Es wäre überheblich zu glauben, dass einzig das Vollkommene das Recht habe, uns zu gefallen. Vauvenargues beschreibt da sehr gut, dass Liebe und tiefste Zuneigung nicht das Vorrecht der Perfekten, der Unbescholtenen oder Heiligen sind sondern jedem Menschen gebühren, gleichgültig ob er, banal gesagt, gut oder schlecht ist. Im Grunde ist es doch in einer längeren Beziehung schon so, dass es gerade die Mängel oder die Macken eines Menschen sind, deretwegen man ihn oder sie ganz besonders oder speziell liebt. Seien wir doch ehrlich – wer ist perfekt? Wer ist ohne Fehler? Und selber kann man doch manchmal auch ein ziemliches Scheusal sein, wenn einem eine Laus über die Leber gelaufen ist. Wer würde sich nicht beklagen, wenn er wegen eines vermasselten Tages, an dem halt alles schief läuft, verurteilt würde? Wer frei von Schuld ist, der werfe den ersten Stein! Man liebt halt jemanden um der Liebe willen und nicht ob der perfekten Harmonie…

Vor einigen Wochen, es war ein Mittwoch und ich war auf dem Weg in die Arbeit, läutete in der Straßenbahn mein Handy. Ich kannte die Nummer nicht, eine männliche Stimme meldete sich, die mir bekannt vorkam, aber es dauerte eine Weile bis ich begriff, dass ich mit Herrn Rossecker sprach, Alberts Chef und meinem Ex-Chef: zu ungeheuerlich war, was er mir zu sagen hatte. Gestern Abend waren er, Albert und ein weiterer Kollege von einem Termin in Deutschland heimgefahren und knapp nach der österreichischen Grenze in einen Unfall verwickelt worden. Das Auto war ziemlich kaputt, was jedoch für mich mehr zählte, war, dass Albert eine Gehirnerschütterung erlitten hatte und in einem Salzburger Krankenhaus zur Beobachtung lag. Während Herr Rossecker mir das kurz erzählte, war ich stocksteif vor Schreck, obwohl dieser mir gleich zu Beginn unseres Gespräches  versichert hatte, dass es Albert den Umständen entsprechend gut ging und er zusätzlich nur ein paar Prellungen erlitten hatte. Ich bekam trotzdem weiche Knie und ein flaues Gefühl im Magen. Um ein Haar hätte ich übersehen, dass ich aussteigen musste.

Herr Rossecker versprach mir, er werde mich sofort informieren, wenn er etwas Genaueres über Alberts hoffentlich baldige Entlassung aus dem Spital und Heimfahrt erfahren würde. Mir war zum Kotzen, als ich die paar Meter in die Firma ging. Die Kollegen rieten mir, einen Tag frei zu nehmen, aber das wäre noch schlimmer für mich gewesen: allein daheim in meiner Wohnung und das Handy anstarren, ob sich Herr Rossecker oder vielleicht Albert selber melden würden… Ich hatte den ganzen Vormittag nur Kopfschmerzen, Tabletten halfen nichts und ich war froh, dass es eher ruhig war, weil ich Angst hatte, hunderte unsinnige Fehler zu machen. Am späteren Nachmittag meldete sich endlich Albert selber. Sein Handy sei beim Unfall kaputt gegangen, entschuldigte er sich und allein seine Stimme und sein Lachen wieder zu hören, besserte meinen angeschlagenen Zustand binnen weniger Minuten. Er sei vor einer halben Stunde in Linz angekommen und ihm sei nichts weiter passiert. Allerdings habe man ihn doch ein paar Tage krankgeschrieben – „… ich hab auch ziemliche Kopfschmerzen gehabt“, gab er zu und schlug mit spitzbübisch Unterton vor „Was hältst du davon, wenn ich gleich zu dir fahre? Ist das eine gute Idee?“

Das war eine gute Idee, keine Frage. Aber trotz der unverhofften „Zusatztage“ mit Albert saß bei mir der Schock über den Unfall sehr tief. Ich schlief schlecht, schreckte mehrmals aus dem Schlaf oder, besser formuliert, aus einem Albtraum hoch und erst wenn ich Albert ruhig neben mir liegen sah, beruhigte ich mich und mein wild schlagendes Herz wieder. Was mir Albert wirklich bedeutet, begriff ich erst richtig in den Tagen, die diesem Unfall folgten, und mir wurde schmerzhaft bewusst, dass ich, hätte ich ihn bei dieser Karambolage verloren, vor den Trümmern meines Lebens gestanden hätte. Albert sagte ich davon nichts, aber er schien zu merken, dass mich unangenehme Dinge plagten obwohl er sich alle Mühe gab, mich auf andere Gedanken zu bringen. Es wäre eine sehr schöne Zeit gewesen, die wir zwei da unerwartet genießen konnten, wenn mich nicht gequält hätte, wie zerbrechlich unser beider Glück war. Von einem Tag auf den anderen hatte ich furchtbare Angst Albert zu verlieren und die dämpfte jedes Glück- und Freudengefühl in mir…

Eine Woche später hatte ich mich aber wieder einigermaßen beruhigt. Tees und Baldriantropfen aus der Apotheke ließen mich wieder mehr als ein paar Stunden Schlaf finden, damit ich den Alltag und den Arbeitsstress bewältigen konnte. Aber bald darauf befiel mich eine andere Unruhe, denn vierzehn Tage später musste ich feststellen, dass meine Tage nicht nur überfällig waren sondern es auch keinerlei Hinweise darauf gab, dass sie sich bald einstellen würden. Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein, ging mir durch den Kopf, wo wir doch immer so vorsichtig gewesen waren und mir im Grunde auch keine Gelegenheit einfiel, wo „es“ hätte passiert sein können. Albert und ich waren doch im Normalfall nur am Wochenende beisammen und da hatte Vorsicht oberste Priorität! Wie, so zermarterte ich mir meinen Kopf, sollte ich Ali nur mit einer möglichen Schwangerschaft konfrontieren wo doch ein Kind zwischen uns nie ein Thema gewesen war? Albert selbst hatte erst Anfang des Jahres einmal so nebenbei geäußert, dass er eigentlich gar kein Kind mehr wolle, weil er mit seiner Kleinen, Melanie, der Tochter, die er mit Babsi hat, völlig das Auslangen fände.

Ich lag mit meinen bösen Ahnungen nicht schlecht, denn als ich Albert bei seinem nächsten Besuch von der Möglichkeit meiner Schwangerschaft in Kenntnis setzte, traf ihn nicht nur fast der Schlag, er begann auch eine sehr heftige Diskussion mit mir, die keinen besonders glücklichen Verlauf nahm. Wie benahmen uns beide wie Kinder, und wie so oft in solchen Situationen werden plötzlich auch Kleinigkeiten, über die man allein schon wegen der Kostbarkeit der gemeinsam verbrachten Zeit sonst hinwegsieht, ein Thema. Ehe wir uns versahen fochten wir unseren ersten richtigen Streit seit dem wir zusammen waren aus und das Ende vom Lied war, dass Albert nach einer Stunde bei mir wieder seine Tasche packte und meine Wohnung ohne ein Wort verließ. Damit unterstrich er noch seine vorherige Haltung, ich hätte ihn reingelegt, wie er in der Debatte immer wieder durchklingen hatte lassen. Als die Tür so ins Schloss fiel, hatte ich das sichere Gefühl in mir, ihn endgültig verloren zu haben. Ich setzte mich auf die Couch und begann zu weinen, zuerst leise, dann immer heftiger bis ich nur mehr schluchzte. Ich begriff nicht, wie Albert von mir annehmen konnte, ich würde ihn gegen seinen Willen zum Vater machen. Schließlich hatte ich mir diesbezüglich nichts vorzuwerfen, absolut nichts.

Aber, so ging mir durch den Kopf, das war irgendwie das Kernproblem, an dem alle meine Beziehungen scheiterten und gescheitert waren. In einer schwierigen Situation, wenn es dann darum ging, festzustellen, auf welchem Untergrund die Beziehung stand, stellte sich der geliebte Mann immer gegen mich. Ich brauchte doch nur an Hermann denken, diesen rückgratlosen Einfaltspinsel, der nicht einen leisen Versuch unternommen hatte, die Märchen meiner Ex-Chefin mit mir zu klären. Den sicheren Freund erkennt man in unsicherer Sache, man konnte das Wort Freund auch gern durch Liebsten ersetzen, es kam auf dasselbe heraus. Im Grunde hatte mich auch Albert jetzt im Stich gelassen – warum passierte das immer mir? Ich weiß nicht, wie lange ich noch geweint hätte aber dann läutete das Telefon. Vicky war dran und eigentlich hatten sie und Bert vorgehabt, mich und Albert morgen auf eine Fahrt ins Salzkammergut einzuladen, aber als sie mich da vor mich hin wimmern hörte, kam sie innerhalb einer halben Stunde zu mir um mich zu trösten. So, wie ich sie oft in der Vergangenheit getröstet hatte. „Nein“, wiederholte sie zum dritten Mal, „ich kann mir nicht vorstellen, dass es aus ist mit dir und ihm. Er ist halt sauer, du musst ihn auch verstehen. Ihr wollt’s ja beide kein Kind. Das musst du ihm aber auch klar machen.“ Sie drückte mich fest und strich mir dabei tröstend über das Gesicht. „Glaub mir, ich bin sicher, das mit euch beiden ist nicht vorbei. Nachdem ihr so lange gebraucht habt um zusammen zu finden – es wär’ lächerlich.“

Vicky kochte uns einen Kaffee und horchte sich die ganze unglückselige Geschichte von vorne bis hinten an. „Heißt das etwa, du weißt noch gar nicht sicher ob du überhaupt schwanger bist?“ sah sie mich dann sehr skeptisch an. „Hast du denn schon einen Schwangerschaftstest gemacht?“ „Nein, natürlich nicht“, antwortete ich beleidigt und verschränkte meine Arme. „Aber ich warte immerhin schon fast eine Woche drauf, und ich merk auch nichts, dass sich die Tage demnächst einstellen könnten, du weißt schon.“ „Vielleicht ist es ja was anderes“, war Vicky nachdenklich geworden und runzelte die Stirn. „Mach Montag schnellstmöglich einen Termin bei deinem Frauenarzt aus“, riet sie mir mit nachdenklichem Gesicht. „Und morgen besorg dir sofort einen Schwangerschaftstest, am besten zwei, dass wir sicher gehen können. Und danach“, fuhr sie mit einem warmen Lächeln fort, „fährst du mit Bert und mir nach St. Wolfgang. Hallstadt ist jetzt, glaub ich, nichts für dich.“ Als sie das sagte, stiegen wieder ein paar Tränen in mir hoch. Nein, Hallstadt wollte ich jetzt auf keinen Fall sehen, da hatte Vicky Recht.

Vicky und Bert behandelten mich sehr liebevoll und vorsichtig. Es war besser, als allein herumzusitzen, aber ich litt, das konnte ich nicht bestreiten. Der Unfall vor nicht einmal drei Wochen hatte mir nur einen Vorgeschmack darauf gegeben wie ein Leben ohne Albert sein könnte: öde und leer. Anfang der Woche stand ich vor einem weitern Dilemma: ich hatte mir am Samstag nicht weniger als drei Schwangerschaftstests besorgt und alle drei hatten mir an drei aufeinander folgenden Tagen ganz eindeutig nach jeweils einer Stunde signalisiert, dass ich mich nicht in anderen Umständen befand. War ich etwa ernsthaft krank? Aber auch in dieser Situation hatte ich es Vicky zu verdanken, dass ich nicht die Nerven wegwarf. Also nahm ich mir zwei Tage frei und fuhr zu meinen Eltern ins Mühlviertel. Denen erzählte ich aber gar nichts von der Geschichte. Unter einem Vorwand besuchte ich dafür die Ordination meines früheren Hausarztes, der mich schon als Kind betreut hatte. Und er dutzte mich noch immer… Im Sprechzimmer kam ich ohne Umschweife auf mein Problem zu sprechen. Den Termin beim Frauenarzt hatte ich erst in zwei Wochen und sollte ich wirklich ein schwerwiegenderes gesundheitliches Problem haben, wollte ich die Möglichkeit beizeiten ins Auge fassen können.

Schweigend hörte er mir zu, dann meinte er nachdenklich in eine Pause hinein: „Sag’, war in den letzten Wochen irgendwas bei dir? So was wie eine Schrecksekunde vielleicht?“ Ich fand es merkwürdig, dass er das ansprach und erzählte ihm von Alberts Unfall. Wieder unterbrach er mich nicht. „Nun, ich bin kein Gynäkologe, und ich weiß es auch nicht sicher ohne Untersuchung, aber ich vermute doch, dass dieser Schock bei dir den Eisprung verzögerte. Wodurch sich auch die Periode verschoben hat. Ich hatte einmal eine Patientin vor ein paar Jahren, bei der das genau so war. Nimm ruhig den Termin bei deinem Frauenarzt wahr, aber ich bin davon überzeugt, dass sich das Problem bei dir bis dahin von selbst gelöst hat.“ Er schüttelte mir fest die Hand als ich ging. „Wirst sehen, alles ist nur halb so wild.“ Gesundheitlich mochte mein alter Hausarzt schon Recht haben, aber Albert hatte sich seit Freitag, seit unserem Streit nicht mehr bei mir gemeldet. Es war unrealistisch anzunehmen, dass er seinen Standpunkt ändern würde. Und bei Gott, ich dachte nicht im Traum daran ihn von mir aus anzurufen – ich war mir keiner Schuld bewusst.

Zwei Tage später erwachte ich gegen fünf Uhr früh mit heftigen Krämpfen im Unterleib. Kein Zweifel, mein alter Hausarzt hatte mitten ins Schwarze getroffen. Im Normalfall wäre ich über die Beschwerden glücklich gewesen, aber sie kamen um eine Woche zu spät. Albert war weg und würde nie wieder kommen… Oder war diese Sache einfach notwendig gewesen um mir zu zeigen, dass auch er nicht der Richtige gewesen war? Dass er, Ali, einmal mehr wieder nur einer jeder Männer in meinem Leben war, die nur in „guten Zeiten“ zu mir standen und mich bei komplexeren Schwierigkeiten im Regen stehen ließen? Wenn nicht das, dann eben was anderes… Eine Woche war wieder zu Ende gegangen, aber diesmal keine Vorfreude aufs Wochenende. Ich hatte für mich selbst geplant, ein paar Filme im Kino anzusehen, Sonntag würde ich bei Beatrice und Louis verbringen, ich war es ja von früher gewohnt, allein zu sein. Langsam sperrte ich die Wohnung auf, stellte meine Tasche an die Garderobe und zog mir die Hausschuhe an, als ich eine blaue Jacke, die garantiert nicht mir gehörte, an einem der Haken entdeckte. Albert! schoss es mir. Er hat ja noch den Schlüssel! Ich drehte mich überrascht um und sah Albert direkt vor mir stehen. Was in aller Welt machte er auf einmal in meiner Wohnung?

„Sag nichts, hör mir bitte einfach zu.“ Albert wirkte nervös wie lange nicht auf mich. „Bitte, wirf mich nicht gleich raus. Es war falsch, was ich vorigen Freitag gesagt habe, ich ….“ Er rang nach Worten, was er mir sagen wollte, fiel ihm offenbar schwer, sehr schwer. „Ich würde nie ernsthaft glauben, dass du mich so einfach zum Vater machen willst. Es tut mir leid. Wir zwei, wir werden das schon lösen, ja? Wir kriegen das hin?“ Als er da so treuherzig vor mir stand, wie ein Schulbub, obwohl einen Kopf größer als ich, verschwand mein ganzer Ärger und Frust wie nichts. Aber ich wollte ihm das nicht  gleich zeigen, er hatte mich schon sehr verletzt. Ich drehte mich um und fragte bewusst patzig: “Wie stellst du dir das vor?“ Albert fasste mich an den Schultern und drehte mich zu sich um. Er sah mich ernst an und blickte mir dabei direkt in die Augen: „Dass wir das lösen werden heißt, dass wir uns der Situation stellen und uns den geänderten Umständen anpassen werden.“ Auf einmal sprach er sehr schnell und fast hektisch. Er hatte noch immer seine Arme um mich gelegt und ich konnte fast nicht glauben, was ich da zu hören bekam. „… ein Kollege von mir, hat mir einen Tipp gegeben. Wir werden ja eine gemeinsame Wohnung brauchen, keiner von uns hat ja eine Wohnung, die groß genug ist für drei.“ Ali lächelt fast verlegen, als er fort fuhr: … diese Wohnung ist wunderschön, sehr ländlich, wie ich es immer wollte. Unser Kind soll nicht in der Stadt groß werden. Morgen Vormittag haben wir einen Termin bei der Inhaberin, um 11:00 Uhr.“ Alis Augen leuchteten, während er mir alles beschrieb. „… es wird dir gefallen. Und dann können wir, wenn du möchtest, alles in die Wege leiten um umziehen zu können…. Ich war baff, man kann es nicht anders beschreiben. Ein seltsames Gefühl stieg in mir hoch wie er mir unsere zukünftige Wohnung beschrieb und von unserem Kind sprach, das es nun nicht geben würde. Zumindest noch nicht. „…du wirst ein Auto bekommen, ganz klar, damit du bis zur Karenz arbeiten gehen kannst. Aber es ist nicht weit bis Linz, keine Sorge…“

„Ali“, unterbrach ich seinen Redeschwall. Er sah mich fast erschrocken an. „Was ist? Willst du lieber eine andere Wohnung?“ „Ali, ich bin gar nicht schwanger, es war ein Irrtum.“ Meine Worte zeichneten ein ungläubiges Staunen in sein Gesicht. Und in der folgenden Stunde hatte ich genug zu tun ihm zu erläutern warum und wieso und weshalb. Als ich endlich fertig war mit meinen Erklärungen, verharrten wir für ein paar Momente beide ganz still. Wir saßen auf der Couch aneinander gekuschelt und in der Stille hörte man nur die große Uhr ticken. Schließlich sah mich Albert von der Seite an und ich konnte das spitzbübische Lächeln in seinem Gesicht unschwer deuten. „Aber die Wohnung, die sehen wir uns morgen trotzdem an. Man weiß ja nie, oder?“

Vivienne

 

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