DIE BUNTE WELT VON VIVIENNE
von Vivienne – November 2001
Gut Ding braucht Weile
Haben Sie auch diese Erfahrung gemacht? Manche Dinge, auf die man lang verzichten muss, fehlen einem auf eine gewisse oberflächliche Art, die man gar nicht mehr richtig wahrnimmt. Man weiß zwar, dass einem etwas fehlt und man jammert auch häufig lautstark darüber, aber genau genommen weiß man gar nicht mehr genau, wie es eigentlich ist…
Sie verstehen nicht ganz, wie ich das meine? Nun, stellen Sie sich vor, Sie müssten von einem Tag auf den anderen auf Ihr Auto verzichten. Führerscheinentzug. Oder noch besser, Totalschaden. Irreparabel. Und momentan fehlen einfach die Mittel, um für einen halbwegs adäquaten Ersatz zu sorgen. Was tun Sie? Es bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig, als Tag für Tag den Kampf mit den öffentlichen Verkehrsmitteln auf sich zu nehmen. Mit Bahn oder Bus in die nächste größere Stadt, wo Sie arbeiten, dort umsteigen auf O-Bus, Tramway und Co. Man gewöhnt sich dran, richtig. Obwohl der Arbeitstag jeden Morgen und jeden Abend wieder Anlass für allerlei Ärgernisse gibt: im Winter in aller Früh bei 15° C warten auf den Zug. Die Straßenbahn fährt Ihnen wieder einmal vor der Nase davon? Oder sie ist so überfüllt, dass Sie sich wie in einer Konservenbüchse vorkommen… Man schimpft, man ärgert sich. Aber man gewöhnt sich dran. Man gewöhnt sich an so vieles…
Aber stellen Sie sich vor, eines Morgens stehen Sie auf und ein chicker Mittelklassewagen steht vor der Tür. Wartet nur darauf, dass Sie einsteigen und losfahren. Was Sie auch sofort tun. Sie brauchen nur mehr die halbe Zeit in die Arbeit. Sie dürfen in der Früh länger liegenbleiben, Sie haben mehr Zeit fürs Frühstück, für sich selbst, für viele andere Dinge. Und sehr schnell kommt der Moment, wo Sie sich fragen: wie konnte ich je ohne Auto auskommen? Und da wird Ihnen erst richtig bewusst, worauf Sie in der ganzen autofreien Zeit eigentlich verzichten mussten…
Verstehen Sie jetzt, was ich meine?
Und sehen Sie, bei vielen Dingen im Leben ist es ähnlich.
*
Anfang Mai hatte sich ein befreundetes Ehepaar aus Berlin bei meiner Familie gemeldet: Jupp und Anneliese, in den Fünfzigern, mit viel Herz und Schnauze, wie man den Berlinern allgemein nicht ohne Grund nachsagt. Diese Freundschaft geht auf einen Onkel zurück: Marius, der jüngere Bruder meines Vaters, ist freischaffender Künstler Maler und Bildhauer. Eine Zeitlang hatte er in Berlin eine Wohnung mit Atelier gemietet. Jupp und Anneliese waren seine Hausmeister. Die beiden umsorgten den Exzentriker, den er fallweise auch hervorkehrte, mit viel Gelassenheit und Humor. Meine Familie kannte die beiden von einigen Besuchen und der Kontakt blieb auch aufrecht, als Marius seine Zelte in Berlin wieder abbrach und sich in der Folge in Südfrankreich niederließ. Doch das ist eine andere Geschichte…
Wie gesagt, Jupp und Anneliese hatten sich gemeldet und für Juni ihren Urlaub am Attersee angekündigt. Sie schlugen uns dort ein Treffen vor. Ich hielt das für eine gute Idee, der Gedanke, meinen Urlaub gleich anzuhängen, hatte etwas Positives. Beatrice, meine jüngere Schwester, schloss sich spontan an. Also besprach ich mit den beiden die Details, das Treffen wurde auf die letzten beiden Juniwochen fixiert.
Etwas überraschend sagte mir dann aber Beatrice etwa zehn Tage vor dem geplanten Urlaub ab. Blöd, ich weiß, gab sie am Telefon zu, aber Louis, mein Mann, möchte unbedingt nach Italien. Na gut, dachte ich. Wird wohl nicht so schwer sein, Ersatz zu finden. Irrtum: meine beiden anderen Schwestern, Eloise und Natalie, die ich als erstes anrief, waren gleichfalls mit ihren Familien auf Urlaub bzw. standen kurz davor. Cousin Hubert und seine Sigrid erreichte ich nur am Anrufbeantworter: …sind bis 5. Juli in Südspanien… Viktoria? Tut mir echt leid, flötete die beste Busenfreundin von allen. Aber Bert und ich haben schon was anderes vor. Natürlich Bert wer sonst? Oh, das verstehe ich schon, flötete ich zurück und hätte am liebsten den Hörer auf die Gabel geknallt. Ein Dutzend oder mehr Telefonate an diesem Abend. Eben so viele frustrierende Absagen von der lieben Verwandtschaft, von Freundinnen, von Kolleginnen… Alle hatten sie schon was vor und alle waren sie nicht allein. Für einen Single scheint die Welt aus lauter Pärchen zu bestehen. Diese These hatte sich gerade wieder einmal erhärtet.
Ich war also ziemlich sauer. Mehr als das: fast verbittert. Als ich mich dann an jenem Samstag Vormittag Mitte Juni ins Auto setzte (von Bruder Claudio geborgt, er war mit seiner Frau in Kärnten nur zu Ihrer Information!), hatte ich tolle Lust, den Urlaub am Attersee zu streichen. Lediglich der Gedanke an Jupp und seine Frau hielt mich davon ab. Was hätten die zwei sich gedacht, wenn ich auch nicht aufgekreuzt wäre? Kurz vor Mittag kam ich also an, erledigte die Formalitäten und trug meinen Koffer ins Zimmer im ersten Stock.
Das Wetter war eher durchwachsen, aber die Aussicht auf den See und das Gebirge einfach traumhaft. Grundsätzlich liebe ich das Salzkammergut heiß, aber bei mir kam trotzdem keine rechte Urlaubsstimmung auf. Mir war in den letzten Tagen wieder schmerzhaft bewusst geworden, dass man sich als Single schnell wie das fünfte Rad am Wagen oder wie ein mickriger Einzelteil vorkommt. Da ich mich mit Jupp und Anneliese in einer nahegelegenen Gaststätte zum Mittagessen verabredet hatte, musste ich all meine Energie zusammenraffen, um einen halbwegs fröhlichen Eindruck vermitteln zu können.
Gott sei Dank kam das Gespräch zwischen uns schnell in Gang. Wir hatten eine Menge Stoff zum Erzählen und Jupp klaubte einige Anekdoten um Marius und seine Berliner Zeit aus seinen Erinnerungen. Das Essen schmeckte vorzüglich und nach einer Tasse Kaffee fühlte ich mich einigermaßen. Die beiden Berliner verabschiedeten sich schließlich für einen Einkaufsbummel durch Weyregg und ein paar angrenzende Gemeinden. Ich überlegte, wie ich den Nachmittag verbringen konnte. Ehrlich gesagt hatte ich mir vorher nicht wirklich etwas überlegt. Die Badesachen hatte ich mit, aber zum Baden wars mir jedenfalls zu kalt, bei dem beständigen Nieselwetter. Ich packte also meinen Koffer aus und blätterte ein paar Prospekte durch. Wanderkarten mit Ausflugszielen lagen vor mir ausgebreitet…
Der Frust hatte mich wieder. Ich suchte fieberhaft nach einem Grund möglichst bald diesen Urlaub abbrechen zu können. Sollte ich mich vielleicht verkühlen? Oder den Knöchel verstauchen? Fadisieren konnte ich mich schließlich auch daheim, das kam in jedem Fall billiger. Single-Blues pur. Was braucht eine Frau mehr als alles andere, wenn ihre Seele am Boden liegt? Ich gab mir einen Ruck und begab mich in die nächste Konditorei: dort bestellte ich einen riesigen Becher mit Schoko-Eis und Schlagobers… Als das Ungetüm dann vor mir stand, wurde mir schon vom bloßen Anblick schlecht. Das würde ich doch nie allein hinunter bekommen. Ich seufzte.
Ja, Vivienne, bist du das? durchbrach da eine Stimme den Wall aus Frust rund um mich. Ist das die Möglichkeit? Ich blickte überrascht auf. Ein großer, dunkelhaariger Mann war an meinen Tisch getreten und ich musterte ihn im ersten Moment, fragend, ja entgeistert. Eine unbestimmte Erinnerung begann sich in mir zu regen. Die lebhaften, dunklen Augen, die warme, herzliche Stimme, der feste, energische Händedruck. „Allmächtiger! entfuhr es mir nach einer halben Ewigkeit. Albert! Wie kommst denn du hier her? Mit dem Auto, antwortete Albert trocken. Ich musste angesichts meiner nicht sehr geistreichen Antwort selber lachen. Verzeih, aber ich bin jetzt einigermaßen überrascht. Damit hätte ich nie gerechnet. Ich schenkte ihm ein warmes Lächeln.
Albert strahlte zurück. Formlos angelte er sich einen Stuhl und setzte sich zu mir. Ich darf doch? Natürlich darfst du, nur keine Umstände, antwortete ich. Wir hatten uns ewig nicht gesehen, genaugenommen seit meinem Abgang von dieser Großhandelsfirma Sie erinnern sich vielleicht. Albert sah noch immer sehr gut aus. Etwas stämmiger war er geworden, er wirkte auch nicht mehr so unbekümmert auf mich wie seinerzeit. Aber, gestand ich mir ein, Ähnliches musste ihm wohl auch zu meiner Person durch den Kopf gehen. Nichts desto Trotz war sein Lachen offen und herzlich, er freute sich sichtlich, dass wir uns getroffen hatten. Und mir ging es nicht anders.
Ich lud Albert gleich ein, mit mir den überdimensionalen Eisbecher zu verdrücken, und er ließ sich nicht zwei Mal bitten. Nach getaner Tat räusperte ich mich erst einmal und griff nach meiner Zigarettenschachtel. Albert zückte sofort sein Feuerzeug und zündete mir die Zigarette an. Noch ganz die Charmebombe von früher, dachte ich bei mir und lächelte verstohlen. Ich tat einen tiefen Zug und fragte ihn neugierig: Und? Bist du noch bei der Firma? Albert grinste zurück. Was glaubst du? In der Folge hörte ich eine Reihe von Episoden aus der Zeit nach meinem Abgang: Witziges, Nachdenkliches, Groteskes. Geändert hatte sich im Prinzip wenig.
Wie läufts eigentlich zwischen Frau Neumeier und Herrn Rossecker? griff ich die Langzeit-Affaire der beiden Chefitäten wieder auf. Wie gehabt, antwortete Albert und trank von seinem Verlängerten, den die Serviererin gerade gebracht hatte. Aber weil wir gerade beim Thema sind, Alberts Gesicht nahm einen gespannten Ausdruck an. Bist du eigentlich noch mit Hermann beisammen? Das ist schon gar nicht mehr wahr, gab ich zu und wunderte mich ehrlich gesagt ein wenig, dass Albert sich an dessen Namen erinnerte obwohl sich die beiden nie gesehen hatten. Ja, zwei Jahre schon wieder vorbei, ergänzte ich mehr für mich selbst während mir die Geschichte wieder einfiel. Damals, als ich mich von Richard getrennt hatte. Richtig… Als ich Alberts forschenden Blick bemerkte, schob ich die Erinnerungen beiseite.
Was treibt eigentlich Toni? versuchte ich einen Themenschwenk. Albert dämpfte seine Zigarette etwas heftig aus. Der ist schon einige Zeit weg. Ich glaube, er ist jetzt in Graz, bei einer Elektronikfirma. Recht hat er, nickte ich. Ich muss dir wohl nicht sagen, dass du auch in dieser Firma nur deine Nerven, deine Talente und deine Zeit verschwendest. Stimmt, gab Albert etwas doppeldeutig zu. Ich hab auch schon graue Haare deswegen. Und zeigte mir eine graue Strähne über dem linken Ohr. Er erzählte dann von einem Konzept, das er fast fertig hatte. Über eine eigene Firmengründung im IT-Bereich. Klang sehr interessant obwohl ich seit der Zeit mit Hermann solche todsicheren Konzepte mit Vorsicht genieße. Aber das sagte ich ihm klarer Weise nicht.
Albert und ich hatten uns in den vergangenen Jahren natürlich verändert. Nach wie vor verband uns aber unser Humor, eine fast kindliche, verspielte Ader, einige gemeinsame Interessen und dass wir über verschiedene Themen, unabhängig voneinander, sehr ähnliche Ansichten entwickelt hatten. Wir konnten einfach miteinander, daran hatte auch die lange Trennung nichts geändert. Das merkte ich schnell. Als wir etwa eine alte Geschichte aus gemeinsamen Tagen auspackten, mussten wir so lachen, dass einige andere Gäste um uns peinlich berührt aufsahen. Albert und ich grinsten uns nur hilflos an während wir mühsam versuchten unser Lachen einigermaßen zu kontrollieren.
Im Kaffeehaus herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Es schien mir bei meinen vereinzelten Blicken rundum, als stünden immer wieder Leute auf um zu zahlen während andere an ihrer Stelle Platz nahmen und bestellten. Nur wir zwei saßen da und redeten und redeten und als ich doch einmal auf die Uhr sah, erschrak ich ein wenig. Mehr als halb sieben, das gabs doch nicht! Schön langsam sollte ich in die Pension zurück. Soll ich dich hinbringen? bot sich Albert an. Wo bist du eigentlich abgestiegen? Ich nannte ihm die Pension, lehnte aber gleichzeitig ab. Ist ja wirklich nicht weit von hier. Aber danke trotzdem. Und wo residierst du eigentlich? fragte ich im Gegenzug.
Albert lächelte. Er erzählte, dass er hier mit einem Freund ein sehr geräumiges Ferienhaus hätte, nicht sehr weit von Weyregg. Dann bist du wohl mit deiner Freundin hier? mutmaßte ich während ich in der Handtasche nach der Geldbörse kramte. Albert stellte seine Kaffeetasse scheppernd hin. Ich blickte auf und stellte fest, dass er mit einem Mal etwas reserviert wirkte. Babsi kommt noch, war er ziemlich kurz angebunden. Mir lag eine Frage auf der Zunge. Gibts da etwa leichte Differenzen mit der Freundin? dachte ich bei mir. In diesem Moment kam aber die Serviererin mit der Rechnung. Also sagte ich nichts, wir zahlten und standen auf. Ich schüttelte Albert die Hand und nickte ihm herzlich zu. Man sieht sich, antwortete Albert seinerseits. Und es klang eigentlich nicht wie eine Floskel.
Am nächsten Morgen, oder wenn ich ehrlich bin, musste man wohl schon eher von Vormittag reden, kam ich beinahe nicht aus den Federn. Am Vortag war es nämlich noch spät geworden. Wir, also Jupp, Anneliese und ich, waren bis in die Nacht mit zwei deutschen Pensionsgästen aus der Gegend um Garmisch beisammen gesessen. Die beiden Freunde verbrachten nun schon zum vierten Mal ihren Urlaub am Attersee, wie sie erzählten. Es wurde auch sonst viel gelacht und gescherzt und auch ein wenig getrunken. Die Gespräche waren zwar nicht besonders tiefschürfend und drehten sich meist um eher Banales. Aber der Tag hatte sich entwickelt, wie ich zu mir selber meinte, als ich nach ein Uhr auf mein Zimmer ging.
Ich ließ den Tag Revue passieren und musste natürlich an Albert denken, den ich so überraschend wieder getroffen hatte. An die gemeinsamen Rauchpausen zusammen mit Toni, an Richards Seitensprung und meinen Auszug aus unserer Wohnung, ja, und die Fahrten mit Albert, der mich über einige Wochen hinweg heimgebracht hatte, in meine neue Wohnung, am A… von Linz. Auch an diese ominöse Weihnachtsfeier erinnerte ich mich wieder, den großen Krach zwischen Albert und mir danach bis hin, ja, als er mir am letzten Arbeitstag sein Herz für ein paar Minuten geöffnet hatte um mir seine Gefühle zu gestehen… Schon eine witzige Geschichte, dachte ich bei mir. So kanns einem manchmal gehen und wenn ich damals geahnt hätte, was mich bei Hermann so erwartet, dann… Egal, unterbrach ich mich. Schluss, aus, vorbei. Aber trotzdem schön, dass wir uns wieder einmal über den Weg gelaufen waren. Gibt halt wenig Leute, mit denen man auch noch nach Jahren kann. Albert gehörte offenbar dazu. Und damit schlief ich ein.
Ich kämpfte mich also mit verschlafenen Blick ins Frühstückszimmer und griff als erstes nach der Kaffeekanne. Der Duft des Kaffees schien wie ein Lebenselixier und nach den ersten Schlucken wurde ich schön langsam wieder richtig wach. Da öffnete die Pensionswirtin hektisch die Tür. Telefon für Sie! Es gab mir einen Stich. Mein Vater war nicht bei bester Gesundheit und ich hatte plötzlich ein ungutes Gefühl. In der Rezeption lag der Hörer offen… Ja, hallo, meldete ich mich nervös. Hallo Vivienne! Alberts fröhliche Stimme überraschte mich völlig. Während meine Anspannung nachließ lud mich Albert auf einen Ausflug nach Hallstatt ein. Ich bin zwar schon einige Male in Hallstatt gewesen, aber die Aussicht, einen Tag gemeinsam mit Albert zu verblödeln, hatte etwas Reizvolles. Außerdem hatte ich ja sonst nichts vor. Ich sagte also ohne langes Überlegen zu und setzte mich wieder zum Frühstück.
Als ich mir die zweite Tasse Kaffee eingeschenkt hatte, kam Jupp ins Frühstückszimmer. Er und Anneliese waren schon eine Weile vor mir aufgestanden und entsprechend putzmunter nahm er bei mir Platz. Na gut geschlafen? lachte er mich an. Weißt du, wir Anneliese und ich, und die beiden netten Herren von gestern möchten eine Rad-Tour um den See machen. Dat Wetter is ja nich so besonders. Na, biste mit von der Partie? Dabei zwinkerte er mir verschmitzt zu. Großer Gott, dachte ich. Radfahren. Rund um den See. Das hieß bei mir Blut, Schweiß und Tränen. Muskelkater und Wadenkrampf. Gott sei Dank hatte ich schon was vor. Leider nein, antwortete ich hastig. Ich trank den Rest des Kaffees und stand auf. Albert holt mich in einer halben Stunde. Wir fahren an den Hallstättersee. Wer is Albert? fragte Jupp mit großen Augen. Ein alter Freund, antwortete ich kurz. Wir haben uns gestern zufällig getroffen. Ich kannte Jupp. Gleich würde er zu jammern anfangen und fragen, ob denn nicht Albert einfach mitradeln könnte. Ich hatte mich nicht getäuscht. Während ich schon fast fluchtartig das Frühstückszimmer verließ, lamentierte Jupp hinter mir, wie enttäuscht die beiden Bayern sein würden, wenn… Da hatte ich die Tür schon hinter mir zugemacht. Nur auf keine Diskussionen einlassen!
Ich ging nach oben, zog mich um, trug ein wenig Farbe im Gesicht auf und legte kurz Hand an die Frisur. Albert war pünktlich, Jupp weit und breit nicht zusehen und so stieg ich einigermaßen erleichtert ins Auto. Albert hatte irgendwann in den letzten Jahren seinen alten Audi gegen einen fast neuen Golf getauscht. Während ich den Gurt anlegte, tauchten die Erinnerungen wieder auf. Es schien 100 Jahre her zu sein… Da merkte ich erst, dass mich Albert schon die ganze Zeit ansah. Ich senkte meinen Blick und fragte mich, was er sich jetzt wohl gedacht hatte. Er sagte es mir jedenfalls nicht sondern ließ den Motor an und fuhr los.
Im Vorbeifahren zeigte er mir das Ferienhaus, das sehr hübsch gelegen war. Leider regnete es immer wieder. Wolkenfetzen waren auf den Bergkuppen verstreut. Ohne Zweifel ein wild-romantischer Anblick, aber Sonnenschein war mir trotzdem lieber. Albert erzählte viel. Urlaubsepisoden, Schwänke aus seinem Leben, bsoffene Gschichten,… Albert ist der geborene Unterhalter und ich hatte viel zu lachen. Während der Fahrt kam mir kurz der Gedanke, wie ungewöhnlich es eigentlich war, dass Albert unsere Freundschaft mit einer Vertrautheit fortsetzte als hätten wir uns vor ein paar Wochen zuletzt gesehen. Schön, aber auch irritierend. Ich verdrängte diese Überlegung aber wieder. Man soll ja nichts überbewerten.
Albert und ich schlenderten durch die schmalen Gassen und Straße von Hallstatt. Ich unterhielt ihn mit einer Geschichte aus meiner Schulzeit, als ein rothaariger, sommersprossiger Amerikaner, ein Austauschstudent, mit unserer Klasse den Ausflug nach Hallstatt mitgemacht hatte… Es war köstlich, in diesen Erinnerungen zu schwelgen. Nach dem etwas verspäteten Mittagessen schlug mir Albert eine Schifffahrt über den See vor. Ich zögerte einen Moment. Albert hatte mich schon zum Essen eingeladen, aber mit seinem Charme zerstreute er meine Bedenken: ehrlich, so schnell würde mir doch sicher niemand, schon gar nicht ein so gutaussehender, liebenswerter Bursche wie er ein so verlockendes Angebot machen… Ich musste lächeln. Wenn er es selbst so formulierte… Warum also nicht?
Es war sehr frisch auf dem See. Trotz der Strickjacke fror ich. Albert stand neben mir an der Reeling. Er wusste eine Menge über Hallstatt, wie ich überrascht zur Kenntnis nahm. Historisches, Wirtschaftliches und Geographisches. Ich musste zugeben, dass sich dieser Hallstatt-Besuch wesentlich von den anderen vorher unterschied. Irgendwann hatte Albert wie zufällig den Arm um mich gelegt und gelacht, so nah beisammen würden wir sicher nicht so frieren. Nichts weiter, versuchte ich mir einzureden. Aber für einen alten Freund war das schon eine ordentliche Portion an Aufmerksamkeit, Wärme und Nähe. Außerdem wurde mir während der Schifffahrt erst richtig bewusst, wie empfänglich ich jetzt dafür war. Hätte ich es nicht besser gewusst, wäre wohl der Gedanke, dass Albert mehr als nur eine alte Freundschaft aufleben lassen wollte, für mich auf der Hand gelegen. Aber so… Es ist schwierig für eine Single-Frau, die des Alleinseins längst überdrüssig ist, solche Signale richtig zu deuten, sagte ich mir. Die Dinge sind oft nicht wie sie scheinen. Deshalb ließ ich es zu, als wäre es nichts Besonders. Aber ich war mehr als nur irritiert, ich war schon etwas unruhig.
Es war relativ spät, als wir uns auf dem Rückweg machten. Mir ging vieles durch den Kopf und mir fiel auch auf, dass mich Albert immer wieder von der Seite beobachtete. Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos warfen tanzende Schatten in sein Gesicht. Er ist ja noch so jung, dachte ich bei mir. Noch keine Dreißig, so weit ich das in Erinnerung hatte, und ich selber war ja schon 35… Woher hattest du eigentlich die Telefonnummer meiner Pension? fiel mir in einer längeren Gesprächspause ein. Albert grinste mich entwaffnend an. Aus dem Telefonbuch. Typisch Albert, typisch seine trockenen Kommentare und Antworten. Aber richtig woher denn auch sonst? Doch damit wir in Zukunft solches vermeiden, fuhr er rasch fort und griff in seine Jackentasche, gibst du mir deine Handy-Nummer und ich geb dir meine. Lächelnd hielt er mir seine Visitenkarte vor das Gesicht. Ich fühlte mich ein wenig überrumpelt, steckte sie aber in meine Tasche und gab ihm eine von mir. …damit wir in Zukunft solches vermeiden… Was um alles in der Welt sollte denn das heißen?
Albert ließ es sich nicht nehmen mit in die Pension zu kommen. Er wollte unbedingt meine Berliner kennen lernen, wie er es formulierte. Die fleißigen Radler saßen müde und ein wenig abgekämpft um den Tisch, wie ich nicht ohne Schadenfreude registrierte. Da war in der Tat ein Krug an mir vorübergegangen. Sie warfen Albert und mir jedenfalls einen etwas überraschten Blick zu. Bevor ich Albert allerdings vorstellen konnte, hatten sie uns schon Platz gemacht und wir wurden in eine rege Unterhaltung einbezogen. Die Pensionswirtin stellte Wein und Most auf den Tisch.
Es war ähnlich wie gestern abend und doch nicht, denn ich saß neben Albert. Der bester Laune war, der vor Charme und Witz sprühte. Und der mich mit leuchtenden Augen anlachte, während in meinem Bauch ein Riesenschwarm Schmetterlinge sein Unwesen trieb. Seinen Arm um mich gelegt demonstrierte er eine Vertrautheit vor den anderen, die mich zusehends in eine Zwickmühle brachte. Ich wusste nicht, wie ich das deuten oder mich verhalten sollte. Einmal strich er mir zärtlich eine Strähne aus der Stirn… Ich fing die Blicke der anderen auf: unschwer zu erkennen, wie sie diese Geste deuteten. Es wäre mir wohl selber auch so gegangen, aber ich wusste, dass in ein paar Tagen Alberts Freundin nachkommen würde. Er war anscheinend im Moment ein wenig übers Kreuz mit ihr, weshalb er einem kleinen Abenteuer nicht abgeneigt schien. Und da kam ich gerade recht. Ich hatte das schale Gefühl, dass mich Albert nur benutzte…
An diesem Abend schlüpfte ich in eine Rolle. Meine ganzen bitteren Gedanken ließ ich mir nicht anmerken, ganz im Gegenteil. Ich war schlagfertig und amüsant und ergänzte mich mit Albert auch verbal in einer Weise, die den äußeren Eindruck noch unterstrich. Aber irgendwann glaubte ich dann, mir würde der Kopf zerspringen. Ich stand auf, uneins mit mir selbst, und ging in den leeren Gastgarten. Dort fiel die Maske von mir ab. Ich lehnte mich gegen einen Baum, ein paar Tränen konnte ich nicht unterdrücken. Gott, war ich eine dumme Gans! Das hatte ich wieder Not gehabt. Der frische Wind kühlte meine glühenden Wangen und mein erhitztes Gemüt ein wenig ab. Ich konnte wieder klarer denken.
Es war ein Fehler gewesen mit Albert diesen Ausflug zu machen. Das sah ich jetzt ein. Er suchte offenbar nur ein wenig Abwechslung, bis seine Freundin – Babsi oder wie hieß sie noch? – nachkam. Und ich? Fast aus dem Nichts waren da ein paar heftige Emotionen in mir wach geworden. Kein Wunder, ich war schon lange allein und Albert war ohne Zweifel ein gutaussehender, liebenswürdiger Bursche seine eigenen Worte. Ich hatte mir eigentlich nichts dabei gedacht ihn wieder zu sehen und jetzt war Feuer am Dach, um es drastisch zu formulieren. Was wusste Albert schon davon wie es ist, wenn man so lange allein lebt… Er war sicher kein Kind von Traurigkeit!
Hey, Vivienne, holte mich Alberts Stimme aus meinen Gedanken. Er war mir nachgekommen, weil ich hier anscheinend schon eine ganze Weile meinen Gedanken nachhing. Ich drehte mich zu ihm um. Albert blickte mich fragend an. Ich beschloss mit ihm über das alles zu reden. Schon aus Selbstschutz. Albert strich sanft mit der Hand über meine Wange. Gehts dir nicht gut? Seine Stimme hatte einen besorgtem Unterton. Mein müder Gesichtsausdruck war ihm sofort aufgefallen. Nichts ist, antwortete ich leicht genervt. Es wäre mir nur einfach lieber, wenn du dir nicht soviel Mühe geben würdest uns wie ein Liebespärchen aussehen zu lassen. Hast du dir eigentlich überlegt, was sich meine Freunde dabei denken? Ich fuhr mit der Zunge über meine trockenen Lippen und wollte fortfahren. Aber Albert blickte mir mit einem versonnenen Lächeln direkt in die Augen, so dass ich mich einer heftigen Gefühlsregung nicht erwehren konnte. Wenn er mich nur nicht immer so ansehen würde… Und wenn wir wie ein Liebespärchen aussehen, ist das ein Problem für dich? Sanft nahm er mich in seine Arme bevor ich irgend etwas sagen konnte. Ich spürte seinen Herzschlag und schloss die Augen. Was für ein verlockender Gedanke sich dieser Situation hinzugeben, sprich: diesem Mann…
Darauf kannst du dich nicht einlassen, siegte aber meine Vernunft schon eine Sekunde später. Mach keinen Blödsinn, sagte sie laut und deutlich. Und sie hatte recht. Im nächsten Moment löste ich mich bestimmt aus seiner Umarmung. Es tat weh, Albert sah mich auch irritiert an, aber ich wollte mich nicht zur Närrin machen. Mach dich nicht lustig über mich! sagte ich fast schroff um meine eigene Unsicherheit zu verbergen. Mein Herz klopfte wie verrückt und ich hatte weiche Knie. Ich ließ Albert stehen und ging die paar Schritte in die Pension zurück. Im Vorraum lag noch meine Tasche. Ich kramte den Zimmerschlüssel heraus als Albert die Tür öffnete und hereintrat. Vivienne, bitte lass dir ein paar Dinge erklären. Hör mir zu, nur ein paar Minuten. Ich sah ihn ungehalten an. Was wollte er eigentlich noch? Für wie naiv hielt er mich denn?
Mir musst du gar nichts erklären, erwiderte ich ziemlich zynisch. Ich war verletzt und zeigte das auch offen. Ich denke, ich weiß wie das hier läuft. Du willst ein paar Tage Spaß haben, bis deine Freundin nachkommt. Okay, soll so sein. Ich will mich in eure Beziehung auch gar nicht einmischen. Dann hielt ich inne und blickte ihm fest in die Augen. Aber für einen netten Zeitvertreib solltest du dir jemand anderen suchen. Albert schüttelte den Kopf während er mir zuhörte. So ist das nicht. Er kam zu mir und nahm meine Hände. Mein erster Gedanke war, ihn einfach stehen zu lassen und nach oben zu gehen. Aber ich konnte nicht, als er mich so ansah, fast bittend… Mein Gott, dachte ich mir. Wo hatte ich eigentlich vor vier Jahren meine Augen gehabt? Wie konnte ich diesen Burschen ignorieren und mich in Hermann verlieben? Lauf jetzt nicht weg, sagte Albert leise. Es ist richtig, Babsi kommt in ein paar Tagen. Mit unserem Kind. Als er meinen betroffenen Blick bemerkte, hob er seine Stimme. Und mit Walter, ihrem neuen Freund. Vivienne, Babsi und ich haben uns schon vor der Geburt unserer Tochter wieder getrennt. Albert macht eine Pause. Und das ist mehr als ein Jahr her.
In meinem Kopf tobte ein Wirbelsturm. Im Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich versuchte nur mühsam, Ordnung in meine Gedanken, in meine Gefühle zu bringen. Und das dauerte seine Zeit. Die Szene gestern im Kaffeehaus, kurz bevor wir gingen, erschien mir in einem ganz anderen Licht. Ich atmete ein paar Mal hörbar ein und aus. Albert schien erleichtert, dass ich ihm zugehört hatte. Sein angespannter Gesichtsausdruck wurde wieder weicher, meine Hände hielt er aber noch immer umklammert. Ein wenig hektisch erzählte er dann weiter: wie er und Babsi sich getrennt hatten nachdem der Versuch, ihre Beziehung durch ein Kind zu kitten, gescheitert war. …ich will ihr keine Schuld geben. Es hat nicht gepasst, wir sind eben zu verschieden. Aber ich liebe unsere Tochter und deshalb habe ich Babsi und Walter eingeladen, damit ich meine Kleine wieder sehe. Was ja sonst nicht so oft der Fall ist, wie du dir vorstellen kannst. Das Haus ist sehr geräumig, aber das sagte ich dir ja schon…
Er lächelte ein wenig verlegen. Ich sah Albert lange an ohne ein Wort zu sagen. Ärger und eine gewisse Erleichterung kämpften in mir um die Oberhand… Warum hatte er mir nicht schon gestern im Kaffeehaus die ganze Geschichte erzählt? Stunden waren wir beisammen gesessen… Zeit hatten wir wahrlich genug miteinander verbracht, auch heute. Eigentlich wollte ich ihm das ganz offen sagen, was ich ihm an Herzklopfen aber auch an Frust und Zweifeln zu verdanken hatte, weil er nicht gleich für klare Verhältnisse gesorgt hatte. Und was ich von so einem Verwirrspiel hielt. Ein einziger Satz und ich wäre mir die letzten Stunden nicht wie eine Idiotin vorgekommen… Aber Albert ist eben Albert. Ich konnte es nicht. Als ich es nämlich wollte, lächelte er mich wieder auf seine unwiderstehliche Art an und flüsterte: Glaubst du wirklich, dass ich nur ein wenig mit dir spielen wollte? Du weißt doch gar nicht, dass ich dich nie vergessen konnte wie denn?
Seien Sie ehrlich, könnten Sie jemandem widerstehen, der Ihnen das sagt? Mit diesem Blick?
Ich habe keine Ahnung, wie lange wir da unten im Vorraum standen. Wir lagen uns in den Armen, flüsterten uns den üblichen süßen Unsinn ins Ohr, tauschten Küsse, Zärtlichkeiten und Liebkosungen aus mal sanft, mal fordernd, mal leidenschaftlich. Vor allem aber ausgiebig – Sie kennen das ja und ganz ungestört. Nur einmal öffnete Anneliese die Tür der Gaststube einen Spalt und warf einen Blick herein. Aber als sie uns dastehen sah, so völlig mit uns selbst beschäftigt, verschwand sie gleich wieder.
*
Epilog
Eine hinreißende Geschichte, nicht wahr?
Manch einer würde dazu sagen: Was lange währt, währt endlich gut.
Jemand anderer könnte auch formulieren: Besser spät als nie.
Goethe aber fiel schon vor über 200 Jahren etwas wirklich Passendes dazu ein: Kennst du die herrliche Wirkung der endlich befriedigten Liebe? Körper verbindet sie schön, wenn sie die Geister befreit.
Ich habe keine treffenderen Worte gefunden.
Vivienne
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