DIE BUNTE WELT VON VIVIENNE
von Vivienne – Dezember 2001
Ein Tag zum Festhalten …
Eine Geschichte für Weihnachten. Und für jeden Tag…
Alle Jahre wieder. Advent und stressige Vorweihnachtszeit. Geschenke kaufen. Terminen nachjagen. Weihnachtsmarkt. Last Chrismas rund um die Uhr. Weihnachtsfeiern mit den Kollegen. Kekse backen. Weihnachtsputz. Wenn die Weihnachtszeit über einen hereinbricht, ist man geschafft. Froh, wenn alles endlich vorbei ist. Und am Heiligen Abend? Die geschmacklose Vase von Tante Rosi lassen Sie schnell auf dem Speicher verschwinden. Der Weihnachtsbaum nadelt jetzt schon wie verrückt und das fette Weihnachtsessen drückt Ihnen auf den Magen. Und als Draufgabe noch ein netter kleiner Familienstreit! Herrlich, darauf freut man sich das ganze Jahr, oder?
Dabei gibt es Momente im Leben, die viel wichtiger sind als sinnloses Prestigeschenken an einem Justament-Datum, finden Sie nicht? Momente, Tage, oder auch Jahre zum Festhalten. Weil sie so schön sind wie ein paar Dutzend Feste auf einmal. Weil ein All-inclusive-Urlaub oder jeder noch so teure Luxusschlitten daneben verblassen. Und manchmal spürt man das Glücksgefühl noch nach Jahren so als ob es gestern gewesen wäre…
Mein Verhältnis zu meiner Mutter ist sehr komplex. Nach jahrelangem Dasein als Mama-Kind wechselte ich irgendwann die Fronten und avancierte vom Lieblingskind, von der Vorzeige-Tochter zur selbstbewussten aber auch eigenwilligen Frau, die etwa Hinweise auf meinen unmöglichen Kurzhaarschnitt als Bestätigung dafür auffasst, dass meine Friseurin wieder super und zu meiner vollsten Zufriedenheit gearbeitet hat. Kopfschütteln und blankes Entsetzen darüber, dass ich alle ihre guten Tipps in den Wind schlage, laufen an mir vorbei. Was nicht heißt, dass ich meine Mutter nicht leiden kann. Ganz sicher nicht. Ich habe nur Schwierigkeiten damit, dass man und da werden Sie mir sicher beistimmen gerade als Tochter für Mutti immer das Kind bleibt, auch wenn man selber schon Kinder hätte, für die man sorgen muss. Trotzdem ist es jedes Mal wieder ein Schock für mich, wenn sie im Spital liegt, und sei es auch nur aus Routineanlässen. Ich mag meine Mutter sehr, auch wenn es nicht immer den Anschein hat. Vor allem auch deshalb, weil mir vor einigen Jahren auf erschreckende Weise bewusst wurde, dass auch die Lebenszeit der eigenen Mutter nicht unendlich ist…
Unsere Mutti ist sechsfache Mutter (mit mittlerweile ebenso vielen Enkeln!). Als Tochter von Bauern, die während des 2. Weltkrieges aufwuchs, war sie früh mit materieller Not und Entbehrung konfrontiert. Ein Relikt aus dieser harten Zeit war auch ein Kropf, den sie von Kindesbeinen an hatte. Auf eine Operation wollte sie sich nicht einlassen obwohl er sie gesundheitlich stark beeinträchtigte: er schwächte ihr Herz und andere Organe. Aber in alter Bauernmanier vertrat sie die Auffassung, dass man sich nur zum Sterben ins Spital legt. Schließlich hatte sie alle ihre Kinder daheim entbunden… Sie schonte sich auch sonst selten, werkte im Sommer oft stundenlang bei der ärgsten Hitze im Garten und schob alle Bitten, sich zu schonen, beiseite. Denn sie hatte es nie anders gekannt…
Ende 1992, genaugenommen um das Weihnachstfest, war schon unübersehbar, dass es mit unserer Mutter gesundheitlich bergab ging. Sie war mit einem Wort schlecht beisammen und nicht die Alte… Es war fast schon ein halbes Wunder, dass sie sich selber entschloss, bei ihrem Hausarzt eine Blutuntersuchung machen zu lassen. Das Ergebnis war erschreckend: bedingt durch eine jahrelange Fehlfunktion der Schilddrüse, eben wegen des Kropfes, wies das Blutbild schlimme Werte auf. Dr. Danner, der Hausarzt, schickte sie ins AKH, für eine exakte Schilddrüsenuntersuchung, und stellte sie unter Zuhilfenahme von diesem Befund auf eine medikamentöse Behandlung der Fehlfunktion ein. Leider vertrug sie aber die Tabletten nicht, ganz im Gegenteil: ihr Herz rebellierte dagegen. Eine weitere Blutuntersuchung veranlasste Dr. Danner zu einer sofortigen Einweisung ins Krankenhaus der Elisabethinen zwecks einer Operation des Kropfes.
Aber er kannte meine Mutter nicht oder nicht gut genug. Sie weigerte sich beharrlich. Wies ihn darauf hin, dass sie den Kropf seit ihrer Kindheit hätte ohne dass er ihr geschadet hätte (!). Und dass ihre momentanen Beschwerden nur von diesen dämlichen Tabletten kämen, die er ihr verschrieben hätte und die sie ohnedies nicht bräuchte… Uns erzählte sie nur die Hälfte und spielte das Ganze herunter. Wir machten uns zunächst keine Sorgen bis Natalie, meine jüngste Schwester, bei einer Mutter-Kind-Pass-Untersuchung ihres kleinen Sohnes vom Hausarzt erfuhr, wie schlecht es um unsere Mutter wirklich stand. Dr. Danner ließ keinen Zweifel daran, dass sie ohne baldige Operation nicht mehr lange leben würde.
Es kostete enorme Kraft und Nerven unsere Mutter zu veranlassen, ins Spital zu gehen. Allein wenn ich nur daran zurückdenke, könnte ich graue Haare bekommen. Ich erinnere mich gut an den kalten aber sonnigen Märztag als ich sie bei den Elisabethinen ablieferte. Der Tag war sehr schön, aber ich fror, auch als ich wieder heimkam. Es war ein merkwürdiges Gefühl, daheim zu sein, und sie, unserer Mutter, war nicht da. Das hatte es noch nie gegeben. Das Haus war seltsam leer ohne sie. Ich hatte mit meinem damaligen Chef eine Sondervereinbarung getroffen: ich durfte meine Mittagspause für die Krankenbesuche ausdehnen und arbeitete dafür am Abend länger. Keine leichte Sache, aber es war klar, dass sich unsere Mutter ohne tägliche Besuche noch mehr gehen ließe, weil sie sich im Krankenhaus nicht wohl fühlte.
Mehr als drei Wochen lag sie dann im Spital. Nicht allein wegen der Kropfoperation die hatte sie schnell überstanden. Drei Tage nach dem eigentlichen Eingriff durfte sie schon heim. Aber ihr Herz war mittlerweile so angegriffen, dass sie eine längere Vorbehandlung brauchte, damit die Ärzte die Operation überhaupt wagen konnten. Wir waren also erleichtert und die Sache schien ausgestanden. Dr. Danner stellte unsere Mutter auf eine medikamentöse Nachbehandlung der Schilddrüse ein, die aber seltsamerweise nicht anschlug. Unsere Mutter klagte zusehends über schwere Herzbeschwerden und Atemnot und verfiel in Depressionen. Zum Muttertag, einen guten Monat nach der Operation, war sie schon wieder bettlägrig und redete vom Sterben.
Dr. Danner zeigte sich überrascht. In einigen Gesprächen, die ich selber auch mit ihm führte, versicherte er mir, dass es oft einige Zeit dauert, bis diese Therapie anschlagen würde. Aber dann, bekräftigte er immer wieder, würde sich der Zustand fast über Nacht bessern… Ich versuchte das zu glauben. Rief täglich von der Arbeit, oft drei, viel Mal, daheim an, wie es aussehen würde. Um nur immer wieder zu hören, dass sie mehr und mehr verfiel. Dr. Danner kam schließlich selber wegen einer neuerlichen Blutabnahme vorbei, deren Ergebnis wir aber nicht mehr abwarten konnten. Am Sonntag darauf riefen wir den Notarzt, der sie sofort ins AKH überwies. Ich begleitete sie auch diesmal. Es war Anfang Juni, ein heißer und schöner Sommertag, aber mir war trotzdem elend zumute. Und als ich wieder heimkam, war ich sehr deprimiert. Bei der Aufnahme hatte ich mit einer jungen Ärztin gesprochen, ihr Fragen spukten mir noch immer im Kopf herum: unsere Mutter ein Leberleiden? Warum sollten ihre Nieren nicht richtig funktionieren?
Mein Chef zeigte vollstes Verständnis für diese Situation. Ich durfte wieder wie im Frühjahr länger Mittag machen und arbeitete dafür am Abend. In den nächsten Tagen ging es unserer Mutter schon besser. Sie erzählte von einigen Röntgen und EKGs, die man mit ihr gemacht hatte. Mittlerweile begann ich schon zu überlegen, wann man sie denn endlich in häusliche Pflege entlassen würde. Ich nahm mir deshalb vor, bei nächster Gelegenheit einen behandelnden Arzt diesbezüglich zu fragen.
Die Gelegenheit kam schneller als ich ahnte. Nicht ganz eine Woche nach ihrer Einlieferung ins Spital, an einem Freitag, nach der Arbeit, traf ich meine Mutter in einem besorgniserregenden Zustand an. Sie erzählte von einer Art Kollaps, den sie erlitten hatte, und von der Atemnot, unter der sie noch immer litt. Ich war geschockt, denn in den Tagen zuvor hatte ich keinen Zweifel gehabt, dass sie bald wieder heimkommen würde. Jedenfalls war sie sehr deprimiert; und ich selber obwohl ich ihr gut zuredete fragte mich fieberhaft, was mit ihr los sein könnte. Kurz bevor ich ging, sah ich wieder die junge Ärztin, die ich bei der Aufnahme getroffen hatte. Ich trat auf sie zu und redete sie wegen der schlechten Verfassung meiner Mutter an. Die Internistin wollte zunächst nicht ausreden. Sie sprach von einer Reihe von Untersuchungen, die noch anstünden, bevor sie etwas sagen könnte. Unter Umständen, meinte sie schließlich, wäre auch eine Lungen-CT nötig. Eine Tomographie? warf ich ein. Wozu?
Die Stimme der jungen Ärztin nahm einen sachlich-distanzierten Ton an. Sehen Sie, wir haben bei mehreren Lungenröntgen einen Schatten im Bereich der unteren rechten Lunge entdeckt, etwa wallnussgroß. Das müssen wir klären. Beim Wort Schatten gab es mir einen Stich. Die Internistin bemerkte die Frage in meinem Gesicht. Sie wurde noch eine Spur sachlicher und sah mich nicht mehr an. Wir vermuten, dass es sich um einen Lungentumor handelt. Ihr schlechter Allgemeinzustand und die Atemnot weisen darauf hin. Meine Einwände, dass unsere Mutter nie geraucht hätte, ließ sie nicht gelten. Das allein ist kein Kriterium. Wir müssen davon ausgehen. Deshalb auch die CT; und möglicherweise auch noch eine Bronchoskopie, was aber bei der Lage des Tumors kein Problem darstellen dürfte, beruhigte sie mich rasch, als sie meinen entsetzen Blick bemerkte. Ich atmete schwer. Und wenn es Krebs ist…? stellte ich die Frage nicht ganz zu Ende.
Die Ärztin konnte mir nicht ins Gesicht sehen. Wissen Sie, das Problem bei Lungentumoren sind die Streuzellen… Selbst wenn wir den Tumor entfernen können, heißt das nicht, dass nicht doch Krebszellen in der Lunge bleiben und ein neuer Tumor entsteht. Dann bleibt halt nur eine Chemotherapie… Chemotherapie was für ein entsetzliches Wort. Es schlug ein riesiges, schmerzendes Loch in meine Seele. Selbst jetzt kann ich nicht mehr sagen, wie ich es schaffte, nach außen hin ruhig zu bleiben. Ich bedankte mich bei der Ärztin für ihre Offenheit, das weiß ich noch. Dann ging ich zu meiner Mutter, sprach ein paar nette aber belanglose Worte mit ihr und verabschiedete mich. Der Schmerz fraß mich fast auf. Ich ging zu Fuß die ganze Krankenhausstraße hinauf bis zur Kreuzung mit der Gruberstraße. Dort steht eine Telefonzelle. Ich warf ein paar Münzen in den Automaten und rief Beatrice an. Ich musste es jemandem sagen… Was heißt sagen? Es dauerte eine Ewigkeit bis ich mich artikulieren konnte. Ich heulte wie ein Schoßhund, und als ich Beatrice endlich die furchtbare Diagnose verdeutlichen konnte, sage sie nur: Komm heim, sofort.
Das tat ich dann. Völlig verweint, und das Weinen ging daheim weiter, nur eben mehrstimmig… Mein Vater, das muss ich dazu sagen, hat seine erste Frau durch ein tückisches Krebsleiden verloren, und es schien, als würde sich das Schicksal auf grausame Weise wiederholen. Ich erinnere mich genau: es war ein so strahlendes schönes Sommerwochenende, aber mir schien es, als wären alle meine Sehnen durchgeschnitten. Ich hatte keine Kraft, war völlig antriebslos und ohne jegliche Hoffnung. Beatrice, Natalie und dem Rest der Familie ging es ähnlich. Von meinem Vater erst gar nicht zu reden… Wie sollte es nur weitergehen?
Wenige Tage danach rief mich Natalie in der Arbeit an. Sie war eben bei Dr. Danner gewesen, mit ihrem Kleinen, und hatte den Hausarzt mit dieser Diagnose konfrontiert. Dr. Danner hatte fast der Schlag getroffen. Ich nehme an, er hatte auch ein schlechtes Gewissen, weil er die Überfunktion der Schilddrüse (die durch eine falsche Dosierung des Medikaments entstanden war!) übersehen hatte, wie er indirekt zugab. Jedenfalls beteuerte er, dass ein Lungentumor mehr als nur unwahrscheinlich sei, nachdem was ihm vom Elisabethinenspital an Röntgenbildern und Untersuchungsergebnissen übermittelt worden wäre. Natalie hatte es gut gemeint, indem sie mir das gleich erzählte, aber ich bezweifelte das Ganze. Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube… Gottergeben war ich wieder jeden Tag bei unserer Mutter im Spital, immer eingedenk der Möglichkeit, mit der Bestätigung der furchtbaren Diagnose konfrontiert zu werden. Gottergeben schnapste ich jeden Tag mit ihr, und gab mir jede Mühe zu verlieren um sie aufzumuntern. Glauben Sie mir, das ist genau so schwer wie zu gewinnen…! Dabei hatte sie keine Ahnung, welches Damoklesschwert über ihr schwebte, denn wir hatten verabredet, nicht mit ihr darüber zu reden solange es sich vermeiden ließ.
Eine Woche nach dem Gespräch mit der Ärztin wurde bei meiner Mutter eine CT der Lunge durchgeführt. Ein genaues Ergebnis erfuhren wir nie. Irgendwie hatte ich auch das Gefühl, als würden uns die Ärzte bewusst aus dem Weg gehen. Es war nie jemand da, den man fragen konnte oder er hatte gerade keine Zeit. Am Montag darauf kam ich erst am Abend ins Spital. Meine Mutter war ziemlich geknickt. Die Ärzte hatten ihr gegenüber erstmals angedeutet, sie könnte etwas an der Lunge haben. Von Krebs ahnte sie zwar nichts, aber für den abend war noch einmal ein Lungenröntgen vorgesehen. Und am nächsten Tag hatte man schon die Bronchoskopie angesetzt… Diese eine Stunde bei ihr war sehr schwer. Sie wollte nicht Karten spielen, sie wollte nicht Kreuzworträtsel lösen. Ich versuchte ihr gut zuzureden und wusste selber nicht, woher ich die Kraft dazu nahm. Als ich das Spital verließ, hatte ich Tränen in den Augen und ich fragte mich, wie es mir wohl in genau 24 Stunden gehen würde.
An diesen einen Dienstag kann ich mich fast noch minutiös erinnern obwohl es solange her ist. Ich konnte den ganzen Vormittag in der Arbeit an nichts anderes denken als an diese Bronchoskopie. Gegen Mittag rief ich daheim an, ob sich womöglich unsere Mutter schon gemeldet hätte… aber sie hatte es nicht. Es war fast dreiviertel zwei als ich mich auf den Weg ins AKH machte. Meine Beine waren schwer wie Blei als ich in den Gang zur Internen Station einbog. Ich öffnete die Tür des Krankenzimmers (das war kurz vor der völligen Umorganisation des AKH, als es nämlich noch Krankenzimmer mit bis zu 16 Betten und mehr gab!) und ging ganz nach vorn zu meiner Mutter. Sie lag im Bett, eingeschlafen. Das Rätselheft war ihr aus der Hand geglitten, in der anderen Hand hielt sie den Kugelschreiber. Ihre Brille war ihr bis zur Nasenspitze gerutscht und sie atmete tief und fest. Ich nahm mir einen Sessel, setze mich zu ihr und sah sie nur an. Mir fehlte der Mut sie zu wecken.
So saß ich wenige Minuten als sie plötzlich aufschreckte. Die Brille fiel aufs Bett, sie setzte sich auf, nahm die Brille und lächelte mich an. Mein Herz raste, und ich begann zu reden, Belangloses. Wir unterhielten uns kurz, als meine Mutter meinte: Na, was bestellt ihr morgen beim Greißler? Aber vielleicht kommt er ohnedies später, und dann red ich selber mit ihm. Sie grinste mich an. Ich darf morgen heim. Ich war wie vom Donner gerührt. Und die Untersuchung…? Schlimm, antwortete sie. Entsetzlich. Und erging sich in Einzelheiten der alles andere als angenehmen Bronchoskopie. Aber ich fragte den Arzt zwei mal. Er sagte mir, es fehle mir nichts. Er wolle der Visite zwar nicht vorgreifen, aber so wie er das sehe, dürfe ich morgen heimgehen. Während meine Mutter weiter plauderte und am Mittagessen kein gutes Haar ließ, versuchte ich klare Gedanken zu fassen. Was war mit dem Schatten auf der Lunge? Doch kein Tumor? Die Ärztin schien sich so sicher zu sein… Könnte man unsere Mutter vielleicht nur hinhalten? Wollte man ihr die Wahrheit nicht sagen? Aber wäre es dann nicht unglaublich mies, ihr zu erzählen, sie könnte morgen heimgehen?
Unsere Mutter ahnte von alledem nichts. Sie war gut drauf, gut wie lange nicht und bat mich, ihr in der Kantine eine Wurstsemmel zu kaufen, da das Mittagessen wie gesagt… Ich tat wie geheißen und als ich nach oben in die Kantine ging, lief ich der jungen Ärztin über den Weg. Während ich noch überlegte, kam sie auf mich zu, gab mir die Hand. Ich weiß in Einzelheiten nicht mehr was sie sagte. Auf ihre falsche Krebsdiagnose ging sie nicht näher ein. Wasser in der Lunge hatte das Organ teilweise geschädigt und zu falschen Annahmen geführt, umschrieb sie das Ganze. Meine Mutter müsse zwar auf eine Reihe von Medikamenten neu eingestellt werden, aber sie habe gute Voraussetzungen sich weitestgehend zu erholen. Ich rief gleich Beatrice an. Die Sorge in ihrer Stimme erstickte ich sofort: Mutti darf morgen wieder heim. – Wo bleibst du? fragte meine Mutter etwas ungehalten, weil ich relativ lang weg war. Oh, es waren so viele Leute, antwortete ich und drückte ihr das Semmerl in die Hand.
Es regnete leicht, als ich zurück in die Arbeit ging. Ein warmer lauer Regen, den ich gar nicht richtig spürte. Ich hatte die Sonne im Herzen und sie strahlte in mir, dass ein Blizzard keine Chance gehabt hätte. Wenig ist mit diesem Glücksgefühl vergleichbar, das ich damals empfand, ein Glücksgefühl wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag auf einmal. Und selbst jetzt, wenn ich mir die Zeit in Erinnerung rufe, spüre ich die Erleichterung und die Dankbarkeit. Meine Mutter und ich, wir sind so verschieden wie Tag und Nacht. Aber irgendwie können wir doch nicht ohne einander und vor allem hängen wir aneinander, mehr als jeder für sich zugeben würde.
Diese Geschichte ist so eine der prägenden Episoden in meinem Leben, die mich in vielerlei Hinsicht verändert haben. Es sind nicht die großen Erfolge oder die große Karriere, die das Glück bringen. Es sind die Menschen selbst, es sind besondere Momente, die das Leben ausmachen. Es liegt an uns sie zu bewahren, sie zu schätzen und im Herzen zu behalten. Diese kostbaren Erinnerungen sind wie kleine Flammen die uns warm halten, wenn uns die Stürme des Lebens zusetzen. Und sie haben mehr Bestand als teuer aber auch oft gefühllos erworbene Geschenke in einer Zeit, in der der Mensch sein persönliches Glück in den Hintergrund stellen soll um gesellschaftlichen Erwartungen und manchmal oft sinnlosem Karrierestreben nachzukommen. Weihnachten kann jeden Tag sein, nicht nur am 24. Dezember. Wir sollten nur offen sein dafür…. und für die kleinen Wunder im Alltag.
Schönes, besinnliches Weihnachtsfest!
Vivienne
Link: Alle Beiträge von Vivienne