Alles ist wieder gegenwärtig.
Ich öffne eine Schreibtischschublade.
Beginne zu kramen.
Dann halte ich den roten Schnellhefter in der Hand.
Ganz oben ein weißes Blatt Papier.
Beklebt mit einem Zeitungsartikel.
Ein Einspalter.
Ausgeschnitten aus der Zeitung.
Ich zwinge mich zu lesen.
…Donnerstag wurde eine 30jährige kaufmännische Angestellte auf dem Heimweg von einer Firmenfeier von einem Unbekannten überfallen und niedergeschlagen. Der Täter vergewaltigte sein Opfer und ließ es verletzt liegen. Das verletzte Opfer wurde erst Stunden später von Passanten entdeckt, die die Polizei alarmierten. Der Täter ist noch flüchtig…
Der Täter ist noch flüchtig.
Und sie haben ihn nie erwischt…
Dreißig Minuten Schmerzen.
Demütigung.
Todesangst.
Und danach?
Ein paar Tage Spital.
Äußerliche Blessuren, die heilten.
Ein hochnotpeinliches Verhör durch die Polizei.
Sind Sie sicher, dass Sie den Täter nicht gekannt haben?
Woher denn auch?
Ich hatte nicht einmal sein Gesicht gesehen.
Es war so dunkel.
Und außerdem hatte ich vor Angst die Augen zugemacht.
Ich dachte er würde mich umbringen.
Das war das Schlimmste.
Ich war so starr vor Angst, das ich mich kaum zu wehren wagte.
Gegen das, was er mir antat.
Ich begann eine Therapie.
Mein Freund verließ mich, weil ich mich verändert hatte.
Er verstand nicht, was in mir vorging.
Narben auf der Seele, die nicht heilten.
Nicht wirklich.
Ich wechselte den Job.
Und fuhr bei erster Gelegenheit zu Stefan.
Der mich mit offenen Armen empfing.
Die Narben werden ein Leben lang bleiben.
Aber es liegt an dir sie zu pflegen, dass sie nicht so schmerzen.
Nichts war mehr, wie es war.
Mein Lachen war dahin.
Mein Lachen, wie ich es kannte.
Unbeschwert.
Fröhlich.
Ich wollte mich damals umbringen.
Mir die Puladern aufschneiden.
Stefan hat mir zurück ins Leben geholfen.
Er muss es gespürt haben, als er an dem Nachmittag auf mein Zimmer kam.
Er wurde zornig.
Nahm mir das Messer weg.
Er ist es nicht wert, hörst du?
Nicht wert, dass du seinetwegen dein Leben fortwirfst.
Ja, vielleicht erwischen sie ihn nie.
Aber du lebst.
Eine Chance.
Wachs daran.
Werde stärker dadurch.
Aber wirf dein Leben nicht weg!
…wirf den Leben nicht weg….
Daran gedacht hab ich öfter.
Aber nie mehr wieder hatte ich Tabletten in der Hand.
Oder ein Messer.
Das Leben hatte mich wieder.
Und so schnell ließ es mich nicht mehr los.
Das Handy reißt mich aus den Gedanken.
Frank.
Wer auch sonst…?
Rührend, wie er sich bemüht.
Und wen er ahnte, was mit mir passiert ist?
Damals?
Würde er sich dann noch bemühen?
Ich lasse das Handy läuten.
Sitze weiter auf dem Stuhl und denke nach.
Die Erinnerung tut weh.
Aber anders als am Anfang.
Die hilflose, verzweifelte Wut ist weg.
Die Wut, die mich überwältigte.
Als ich glaubte, ich müsste diesen Mann töten.
Die Gewissheit, dass sie ihn nicht erwischten.
Die mit jedem Tag größer wurde.
Während ich mich rächen wollte.
Sinnlose Therapie.
Den Schmerz und die Wut herausbrüllen?
Papierbälle formen und an die Wand werfen?
Dabei hätte ich den Arm meines Freundes gebraucht.
Wirklich.
Ich werde nicht fertig damit.
Das hat keinen Sinn mehr mit uns.
Schön, er wurde nicht fertig damit.
Und ich?
Wer fragte mich, wie ich damit fertig wurde?
Das Handy läutet wieder.
Frank ist hartnäckig.
Ich bin mir sicher, er wird noch einmal anrufen.
Vielleicht auch ein viertes Mal.
Ich habe keine Lust heute mit ihm etwas zu unternehmen.
Während das Mobiltelefon weiter klingelt, lege ich den Schnellhefter zurück in die Schublade.
Ganz unten, wo er war.
Dann schließe ich die Schublade wieder.
Lautes Piepsen.
Eine Nachricht – von wem wohl…
Ob ich heute noch in den Park gehe?
© Vivienne