Ich liege wach im Bett.
Fast zwei Uhr morgens.
Frank ist eng an mich gekuschelt.
Sein linker Arm ruht auf mir.
Er schnarcht leise.
Sein Haar kitzelt leicht an meinem Hals.
Sein Brustkorb hebt und senkt sich gleichmäßig.
Ich spüre es, obwohl ich ihn in der Dunkelheit nicht sehe.
Ich zähle seine Atemzüge.
Ein.
Aus.
Immer wieder.
Ich zähle um mich abzulenken.
Vor drei Tagen waren wir bei Stefans Begräbnis.
Vor einer Woche ist er gestorben.
Ich erinnere mich an Susannes Anruf.
Spät abends.
…er liegt im Sterben…
Am nächsten Morgen die traurige Gewissheit.
Stefan ist kurz nach vier Uhr morgens verstorben…
Susanne war gefasst gewesen.
Ich hatte so viel geweint in den Tagen danach, dass ich fast nicht verstand, dass sie uns mit blassem aber tränenlosem Gesicht beim Begräbnis in Empfang genommen hatte.
Tränenlos.
Hatte sie vielleicht schon zu viel geweint?
Heimlich, wenn es niemand sah?
Oder schöpfte sie einfach so viel Kraft aus ihrem Kind?
Stefans Kind?
Vielleicht hatte sie auch einfach nur nach außen abgeschottet gegen das Unabwendbare.
Aus Selbstschutz.
Die Tränen würden vielleicht später kommen.
Nächste Woche.
In einem Monat..
Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf als Frank und ich dem Sarg folgten.
Ich hatte mir Stefan vorher nicht mehr ansehen wollen.
Ich hatte Angst, dann vielleicht sein von Krankheit und Schmerz zerstörtes Gesicht in Erinnerung zu behalten.
Nein.
Stefan sollte leben und lachen in meinem Herzen.
Fröhlich sein.
Mich fröstelt.
Ich denke zurück an jenen Nachmittag in Flachau.
Ein halbes Jahr nach meiner Vergewaltigung.
Mit Depressionen, kaltem Hass und unglaublicher Verzweiflung war ich zu ihm gefahren.
Stefan hatte mich eingeladen.
Ahnungslos wie schlecht es mir wirklich ging.
Von der Geschichte wusste er aber schon.
Und ich wollte mir am ersten Abend die Pulsadern aufschneiden.
Stefan kam nur zufällig in mein Zimmer.
Ein Zufall rettete mein Leben.
Ich hatte mein Handy beim Schilift liegen lassen.
Stefan wollte es mir bringen.
Und mir gut zureden.
Wir hatten noch keine Zeit gehabt uns richtig zu unterhalten.
Aber meine Depressionen waren zu stark geworden.
Ich wollte mein Leben hinwerfen.
Blutete schon, als Stefan fröhlich die Tür hereinpolterte…
Und in einem Moment die Situation erkannte.
Ein kurzer Kampf.
Dann begann ich zu weinen.
Stefan verband mich.
Während er wieder begütigend auf mich einredete.
Minuten vorher war er sehr laut geworden.
Nahm mich in den Arm.
Drückte mich fest.
Streichelte mich zärtlich…
Stefan blieb dann bei mir.
Die ganze Nacht.
Aus Angst, ich würde mir wieder etwas antun.
Und wir schliefen miteinander.
Das erste und einzige Mal.
Stefan hatte eine lose Freundin in Flachau.
Liesl hieß sie.
Oder doch Inge?
Ich weiß nicht mehr.
Ich war glücklich mit ihm in dieser Nacht.
Obwohl ich ihn nicht liebte.
Nie.
Zumindest nicht so.
Er war immer mehr mein großer Bruder gewesen.
Mein Retter…
Und das sollte auch so bleiben.
Obwohl wir uns einmal näher gekommen waren.
Sehr nahe.
Es blieb unser Geheimnis.
Obwohl er mir damit ins Leben zurück half.
Eine Nacht.
Doch wir verloren nie ein Wort darüber.
Ich schrecke hoch.
Fast drei Uhr morgens.
Jetzt wäre ich eben eingeschlafen.
Nun bin ich wieder hellwach.
Was war das für ein Geräusch?
Jemand am Fenster?
Nein.
Ist da jemand im Zimmer?
Einen Moment scheine ich es zu spüren.
Verrückt…
Stefan…?
Ich spüre ein wenig Angst.
Stefan.
Ich flüstere seinen Namen.
Aber im Zimmer bleibt es still.
Nur Frank bewegt sich.
Wie schon vor einer Stunde.
War Stefan bei mir?
Mich zu grüßen?
Verrückte Idee.
Aber plötzlich fühle ich mich besser.
Fast erleichtert…
© Vivienne