Gamet wusste nicht wie lange er ohne Bewusstsein war. Das Radio wurde immer undeutlicher und bald würde es ganz verstummen.
„Gamet, hilf mir. Wir müssen die Leichen über Bord werfen.“ Gamet wurde unsanft aus seinem Tiefschlaf gerissen. Seko stand breitbeinig über Gamet und schüttelte dessen Schultern.
„Gleich Seko, lass mich noch ein wenig ruhen. Nur noch einen Augenblick.“ Gamet hatte sich mit einem Seufzer zur Seite gedreht.
Ohne Gebet würde Gamet Luyamine niemals aus dem Hause gehen. Wenn der Muezzin ruft, würde er in sein Gewand schlüpfen, seine Füße, die Hände und auch der Kopf wären gewaschen und er würde sich gen Mekka, der Heimat des Propheten, der einzige Gott möge ihn beschützen, verneigen und ihn den Einzigen, den Gerechten preisen.
Heute würde sich entscheiden ob er Gamet seine Zukunft finden könne, seine Zukunft und darin waren sich alle in der Familie einig, würde auf dem Meer liegen zumindest für die nächsten zehn Tage.
Diese zehn Tage würde er mit etwa achtzig anderen in einer Nussschale verbringen und ein kleines Gerät würde die Auswanderer ins Paradies bringen. Das kleine Gerät mit Namen GPS, einem kleinen Sattelitenempfänger, dessen Funktion keinem der Mitreisenden so richtig klar sein würde. Es wäre an Seko dieses kleine Wundergerät nach der richtigen Richtung zu den Inseln, welche das Glück versprechen, auszurichten und das kleine Holzboot sicher in einem spanischen Hafen an die Mole zu bringen.
Hier in Dakar hatte sich Gamet an Seko gewand und dieser hatte ihm zugesagt, ihn im nächsten Boot mit zu den Kanaren, dem Zipfel Europas, der der westafrikanischen Küste am nächsten lag zu nehmen. Spanien versuchte zwar Druck auf den Senegal auszuüben und hatte zugesagt, bei dem Aufbau einer senegalesischen Küstenwache zu helfen, aber ein echtes Rückführungsabkommen gab es bis heute noch nicht. Dazu hatte die Tatsache, dass die Kanaren nicht alle Flüchtlinge aufnehmen können, die Verteilung auf andere spanische Provinzen nötig gemacht. Spanien sperrte sich offiziell gegen eine „Festung Europa“.
Aus dem Transistor war die sanfte Stimme von Kine Lam, der Mbalakh-Queen die mit ihrer näselnden Stimme die afrikanischen Pop-Charts anführte, zu hören. Der Empfang wurde zwar laufend durch lautes Rauschen gestört, aber so ganz war er nicht, wie befürchtet verschwunden.
Seko hatte die Hälfte seines noch jungen Lebens auf den schwankenden Planken eines der undichten Holzboote gestanden und er war der einzige, den die Krankheit am zweiten Tag nicht erwischt hatte.
Durch das Übergeben über die niedrige Rehling, waren alle Erkrankte dehydriert und hatten in den folgenden Tagen mehr als das dreifache der Wasserrationen, die für die Bootsbesatzung vorgesehen waren, benötigt.
Im Radio wurde immer gewarnt, in einer Piroge die Fahrt nach Spanien zu versuchen. Keiner würde dort lebend ankommen und alle auf der Fahrt elendiglich verdursten oder beim Kentern des Bootes von den Haien gefressen. „Leute und wenn Ihr es Schaffen solltet, werdet Ihr keine Arbeit finden in Europa. Europa steckt in einer schweren Krise. Bis in die Neunziger war es schwierig für Afrikaner und seitdem die Grenzen nach Osteuropa offen sind, ist es fast unmöglich eine gut bezahlte Arbeit zu finden. Wer unbedingt nach Europa will, der soll sich ein Visum besorgen und nicht übers Meer fliehen.“
Gamet musste lachen, wenn er diesen Unsinn hörte, das der von der Unesco bezahlte Vorortsender von sich gab. Gamet wusste es besser. Sein ältester Bruder floh über Marokko und fährt jetzt einen Laster in Spanien. Ein anderer Bruder setzte von Tunesien nach Italien über und ist Fabrikarbeiter. Eine Schwester bekam ein Visum und arbeitet in einem Friseursalon in Barcelona.
Ein anderer Bruder hatte mit einem von Marokkaner gezimmerten Boot versucht nach Spanien zu kommen. Es war undicht und die Flucht endete in Sichtweite des Strandes. Umgerechnet Tausend Euro waren futsch. Und die Marokkaner auch.
Gamet sah wie Seko einen leblosen Körper auf die Rehling hievte und diesen mit einem kurzen Stoß in die See gleiten ließ. Ein kurzes Platschen war alles, was von diesem so hoffnungsvollen Auswanderer blieb.
Seko war seit Jahren mit seinen drei Brüdern und dem Vater im gemieteten Boot vor der Küste des Senegal zum Fischen gefahren. Der Vermieter bekam die Hälfte des Fanges, aber seitdem die EU-Fangflotte die Küste leergefischt hatte, mussten sie immer weiter hinausfahren, zuletzt mehr als vier Stunden.
Der Fanganteil reichte dem Bootsbesitzer bald nicht mehr und als er ein Angebot bekam, das Boot zu einem überhöhten Preis an Flüchtlinge zu verkaufen, waren Sekos Vater und seine Söhne ihren Arbeitsplatz los.
Seko der Kapitän und sein Fahrgast Gamet waren mit weiteren achtzig jungen Burschen, die es sich leisten konnten vor etwa vierzehn Tagen in Thiaroye-sur-Mer, einem Vorort von Dakar in See gestochen und lediglich 300 Kilometer vor den Kanaren war ihnen der Sprit ausgegangen.
Nun trieben sie schon vier Tage in Marokkanischen Gewässern und sie waren sich nicht sicher was schlimmer wäre, von der Küstenwache aufgebracht zu werden oder zu verdursten.
Vor drei Tagen hatte es angefangen. Zunächst sah es nach Meuterei aus. Die Burschen machten Seko Vorhaltungen und schimpften und bedrohten ihn. Gamet hatte es vermocht die Situation zu entschärfen mit dem Argument, dass Seko der einzige sei, der eine Katastrophe verhindern könne.
Als der Wasservorrat zu Ende ging durch den Sturm mit zwanzig Meter hohen Wellen und nicht nur die Moral sondern auch die Widerstandskraft sank, wurde aus den Rebellen hilflose Kinder. Jedenfalls hatte es für Gamet so geklungen, als zuvor so starke Burschen nach ihren Müttern riefen, die aber sehr weit waren und von denen keinerlei Hilfe zu erwarten war.
Vor zwei Tagen hatten die ersten angefangen Meerwasser zu trinken. Gestern waren die beiden ersten über Bord gesprungen und hatten versucht zu dem Frachter zu schwimmen, den nur sie sahen, ihres Irrsinnes wegen. Alle Versuche, sie davon abzuhalten waren vergeblich. Sie hatten versucht mittels der Riemen das schwere Boot zu wenden um die Unglücklichen wieder an Bord zu ziehen, aber es war ihnen nicht gelungen, die Entkräfteten zu erreichen bevor diese untergingen.
Gamet hatte zuhause in dem zwölf-Quadratmeter-Zimmer bei seiner Mutter ein Zeugnis der „Kreditanstalt für Wiederaufbau“ hängen, für die er bei einem Entwicklungsprojekt gearbeitet hatte bis der afrikanische Partner nach einem halben Jahr aufhörte die Löhne auszuzahlen.
Danach beschloss Gamet nach Europa zu gehen. Er kannte bestimmt hundert Leute, die das Land verlassen hatten. Die Radiomacher behaupteten zwar immer, dass die meisten es nicht bis Spanien geschafft hatten, doch Gamet wusste es besser. Einige hatten angerufen, aus Deutschland und Frankreich und natürlich Spanien. Einige hatten es sogar bis nach London geschafft.
Seko hatte seinen Zeigefinger ganz nahe an seinen Daumen gehalten, als Gamet ihn fragte am Strand, wie groß die Chance wäre nach Europa zu kommen.
„Winzig klein,“ sagte Gamet, „das reicht, um das Leben aufs Spiel zu setzen.“
Thiaroye liegt am Meer. „Man bekommt zu Essen, hat ein Bett zum Schlafen.“ Es gibt einen von Italien gestifteten Krankenwagen, aber keine Zukunft! „Ich brauche Arbeit, ich möchte mal heiraten, ich möchte etwas Eigenes aufbauen.“ Gamets Mutter hatte nur still genickt.
Der Mann der Gamet an der Schulter packte, sprach wahrscheinlich arabisch. Einige Brocken waren ihm aus dem Koranuntericht bekannt und Gamet wunderte sich, dass einer seiner Mitflüchtlinge so gut arabisch sprach, obwohl die meisten gar keine Muslime waren, sondern aus dem südlichen Nigeria kamen.
Durch Backpfeifen aufgeweckt schüttelte Gamet seinen Kopf und sah sich um. Er war von Uniformen umgeben und diese Uniformen, oder besser die Kerle die in diesen steckten, redeten ununterbrochen. Sie redeten in der Sprache des Propheten. Es waren die Uniformierten die den Marinesoldaten glichen, die in den französischen Soaps immer vorkamen, die seine Schwestern immer verschlangen, die ihm die Backpfeifen gegeben hatten.
Es wurde ihm sofort bewusst. Marokkanische Marine hatte sie erwischt. Er lag in der Koje eines marokkanischen Kriegsschiffes. Und er lebte noch. Und er würde diesmal nicht nach Europa kommen. Und er würde wieder in den Senegal abgeschoben. So machten sie es immer. Es würde ihm nichts nützen, dass er seinen Pass nach dem Auslaufen ins Meer geworfen hatte.
Nachtrag: 25 000 Flüchtlinge aus Afrika schafften in den ersten zehn Monaten 2006 den Sprung auf die Kanaren.
Fast alle gingen im Senegal an Bord eines Bootes.
Das Rote Kreuz schätzt die Anzahl an Toten auf etwa 3000.
Auf den Kanaren wurden 500 Leichen angespült.
Senegalesen brauchen keine sogenannten Schlepper. Sie kaufen auf eigene Rechnung zu überhöhten Preisen ein Boot. Ehemalige Fischer bringen das Boot auf hohe See. Sie wissen, wie man der Küstenwache Mauretaniens und Marokkos entgeht.
Mich hat ein Tatsachenbericht von Burkhard Weitz in „Chismon“ zu dieser Schilderung veranlasst.
(C) Chefschlumpf