Eben hatte Else Leutgeb laut schimpfend die Wohnungstür hinter sich zugeworfen. Ich verhielt mir mein Grinsen nun nicht mehr und ging vergnügt ein paar Türen weiter, wo Albert und ich residierten. Was hatte die Leutgeb nicht ihrer Wut lautstark Ausdruck verliehen! Dieses Gesindel hier in dem Haus, alle wären sie Neider und Schlechtmacher und ich müsste doch zugeben, dass sie sich nichts zuschulde kommen haben lassen! Ohne meine Antwort abzuwarten hatte sie fort gefahren, dass sie sicher herausfinden würde, wem sie diese Verleumdung zu verdanken hatte und der würde sie kennen lernen! Vermutlich wäre sie noch eine halbe Stunde oder länger vor ihrer halb offenen Wohnungstür gestanden und hätte sich über all diese gemeinen Leute hier im Haus beklagt, aber ihre Kinder hatten zu streiten begonnen und ihre Stimmen mussten diese wohl von der Mama geerbt haben, denn die Lautstärke irritierte schließlich sogar die keppelnde Frau Leutgeb und sie verschwand wieder in ihren vier Wänden.
Ich meinerseits setzte daheim Kaffee auf während fröhliche Musik aus dem Radio tönte. Albert war unterwegs, er wollte noch Batterien besorgen und ich hatte noch etwa eine Stunde für mich. Die Kaffeemaschine brodelte und dampfte und mir wurde bewusst, dass man sie wieder entkalken sollte. Minuten später setzte ich mich an den Küchentisch und blätterte eine Zeitschrift durch, aber immer wieder kam mir Else Leutgeb in den Sinn. Einmal abgesehen von der unfreiwilligen Komik mit der sie ihre Giftspritze gegen den oder die unbekannten Anzeiger versprüht hatte: mir tat die Frau nicht Leid, nicht im Geringsten. Der Krug geht solange zum Brunnen bis er bricht! Und genau das war Else Leutgeb passiert, nichts anderes…
Frau Leutgeb war eine Frau um die dreißig mit drei Kindern. Der Gebrauch von Deo oder Parfüm war ihr immer fremd gewesen, weil man meistens schon riechen konnte, wo sie stand. Schon klar, dass nicht jeder Mensch gleich stark transpiriert, aber einmal abgesehen von der Fremdbelästigung wäre es mir selber unangenehm gewesen, auch nur bisweilen derartige Duftwolken zu verbreiten wie sie. Aber Else Leutgeb kannte da keinen Genierer, Parfüm war in ihren Augen nur schädlich oder sie konnte sich einfach auch keines leisten, denn sie war schließlich geschieden, eine bedauernswerte Alleinerzieherin. Mittlerweile über ein Jahr schon und dieses Faktum war auch der Stein des Anstoßes, Grund für das Malheur, über das sie sich so aufgeregt hatte…
Nach der Scheidung war Karl, ihr Mann, ausgezogen und Else hatte am Arbeitsamt die Notstandshilfe beantragt. Selber konnte sie ja mangels Kinderbetreuung zur Zeit keine Arbeit annehmen und so wurde ihr Monat für Monat neben den Alimenten für die Kinder auch die Notstandshilfe überwiesen. Daran war auch nichts Falsches obwohl mir schon auffiel, dass Frau Leutgeb ihre Kinder zwar bisweilen halbe Nächte allein ließ, sie sich aber heftig dagegen wehrte auch nur halbtags vermittelt zu werden, weil ihre Jüngste noch zu klein für den Kindergarten war. Aber ich kümmerte mich nicht ernsthaft darum, Frau Leutgeb war mir immer ziemlich egal gewesen. Ich suchte auch gar nicht den Umgang mit ihr, weil sie einfach so stark schwitzte und vor allem weil sie am liebsten nur über alles und jeden schimpfte, wie über „die Ausländer, die wir alle erhalten müssten und die kein Engagement zeigen arbeiten zu gehen, diese Faulsäcke…“
Vor ein paar Monaten versöhnten sich Else Leutgeb und ihr Ex überraschend. Ich sah ihn wieder regelmäßig bei ihr ein- und ausgehen und er grüßte auch immer weit freundlicher als seine Wieder-Frau, die neben der unvermeidlichen Zigarette auch immer Spottnamen für den einen oder anderen Mieter im Haus zwischen ihren Lippen führte. Ich bin mir sicher, dass auch Albert und ich da schon unser Fett abbekommen hatten, aber das war mir herzlich egal – die Frau konnte uns den Buckel runterrutschen. Andere Mieter nahmen die Lästerreden von Frau Leutgeb hingegen nicht so locker, in der Folge war es deswegen schon zu gröberen Disputen im Stiegenhaus gekommen. Aber die feinere und umso subtilere Klinge führte jemand Anonymer im Verborgenen…
Und dieser Tage hatte Frau Leutgeb einen eingeschriebenen Brief vom Arbeitsamt erhalten. Anonymus hatte Frau Leutgeb am AMS angeschwärzt: dass sie wieder mit ihrem Mann lebte und ihr Notstandshilfebezug daher überprüft werden müsste. Und daher auch die Aufforderung der zuständigen Beraterin, dass sich Frau Leutgeb in der Angelegenheit noch in dieser Woche am Arbeitsamt einzufinden hätte… Frau Leutgebs Stimme hatte gezittert, als sie mir von dieser unglaublichen Gemeinheit erzählt hatte. Mir war schon bewusst, dass es für Frau Leutgeb dabei um viel Geld ging und dass sie wahrscheinlich zumindest einen Teil des Geldes zurückzahlen würde müssen… aber sie tat mir trotzdem nicht Leid.
Die Regeln am Arbeitsamt sind streng. Und für Frauen oder Mütter in fixer Lebensgemeinschaft gibt es daher oft keine Notstandshilfe oder nur in besonderen Fällen. Ob das nun im Einzelfall menschlich war oder nicht, konnte und wollte ich nicht beurteilen. Frau Leutgeb war mit Sicherheit in Kenntnis gesetzt worden, dass sie jede Änderung ihrer Lebensumstände (eine neue Arbeitsstelle, einen neuen Lebensgefährten, etc.) melden musste. Und dass sie mit ihrem Mann wieder zusammenlebte, war so ein Umstand. Frau Leutgeb hatte das aber verabsäumt, schließlich wollte sie auf das Geld nicht verzichten. Wie so manche Frau in dieser Situation, das kann man guten Gewissens behaupten, aber im Falle der Frau Leutgeb hatte jemand im Haus die Gelegenheit genutzt und sich mit einem Anruf am Arbeitsamt für deren böses Mundwerk revanchiert… Die Kinder waren in dieser Situation sicher nicht zu beneiden, aber Frau Leutgeb selber? Nein! Die hatte dieses vermeintliche Pech, wie sie es nannte, schon selber verschuldet… In mehrfacher Hinsicht.
© Vivienne