Die Streunerin

Seit ich denken kann, bin ich in meinem Leben mit Katzen konfrontiert gewesen. Der schwarzweiße Kater Mutzi war der erste, an den ich mich bewusst erinnern kann: zusammen sind wir auf einer Graphikzeichnung, die mein Onkel mit ein paar Farben gekonnt aufpeppte, in einem Bilderrahmen verewigt. Die letzten Jahre war es vor allem mein fuchsroter Stubentiger Stocki, der mir Freude (und auch Ärger) ins Leben brachte. Aber ein echter Katzenliebhaber kann einer schnurrenden Katze halt nicht widerstehen, auch wenn sie einmal etwas ausgefressen hat. Stocki ist längst kastriert, und deshalb auch trotz des Übergewichtes kerngesund und vital.

An dieser Stelle möchte ich auch mit einem alten Irrglauben aufräumen, dass man Katzen und Kater nicht kastrieren bzw. sterilisieren sollte, weil man sie – O-Ton – „sonst um ihre einzige Freude im Leben bringen würde“. Mitnichten. Eine weibliche Katze macht sicher während ihrer „Rolligkeit“ einiges mit, weil die Paarung mit furchtbaren Schmerzen für sie verbunden ist: der Penis eines Katers ist mit unzähligen winzigen Widerhaken versehen, die der Katze natürlich keine Jubelschreie entlocken. Auch für die Kater selber ist die Paarungszeit kein Honiglecken. Sie führen gegeneinander heftige Kämpfe aus, bei der schon einmal ein Ohr zerfetzt oder ein Auge getrübt wird, manchmal gibt es auch schlimmere Verletzungen. Nur die stärksten Kater kommen bei den Katzen schließlich zum Zug.

Als mein Stocki im ersten Frühjahr seines Lebens nach solchen Kämpfen mit einer heftig blutenden Wunde an der Flanke heimkam, die über Wochen nicht heilen wollte, stand mein Entschluss fest: es gibt genügend Katzen, die verzweifelt im Tierheim auf einen guten Platz warten, und mein Stocki sollte, abgesehen von seinen möglichen Verletzungen, vor denen ich ihn bewahren wollte, nicht noch zusätzlich zum Katzenelend beitragen. Unser Tierarzt erledigte den kleinen Eingriff an einem Nachmittag und nach ein paar Tagen, in denen er etwas verwirrt durch’s Leben tapste, erwachte er rasch zu seiner üblichen Lebendigkeit. Stocki verfügt im Grunde über einen sehr gutmütigen, sanften Charakter, ist liebesbedürftig und anschmiegsam, ganz im Gegensatz zu seiner Mutter, die sich oft neurotisch und streitsüchtig gibt und ihren heranwachsenden Sohn schnell als Rivalen ansah. Es dauerte Jahre, bis mein Stocki so viel Kampfgeist entwickelte, dass er sich gegen die Hiebe seiner Mutter, die ein Zwerg im Vergleich zu ihm ist, auch wehrte. Dass der gute Stocki aber selber auch ganz schön böse und angriffslustig sein könnte, hätte ich nie geglaubt – nie, bis zu jenem Spätsommertag, an dem die Streunerin in meinem Bett lag.

Wir hatten gerade den alten Zwetschkenbaum umgeschnitten, weil er innen faulig geworden war. Während die Familie beschäftigt war, den Baum zu zerteilen und als Brennholz für später zu lagern und trocknen zu lassen, ging ich ins Haus, um mir eine Jacke zu holen. Es war empfindlich kühl für Ende August. Als ich in mein Schlafzimmer trat, blieb ich überrascht in der Tür stehen: in meinem Bett lag eine mittelgroße junge Katze, grau getigert und weiß. Wie selbstverständlich hatte sie es sich auf dem Kopfpolster bequem gemacht und hob nicht einmal den Kopf, als ich die Tür hinter mir zumachte. Ich trat auf sie zu. „Was bist denn du für eine?“ begann ich mit ihr zu reden (Ich rede immer mit Katzen!). Als Antwort streckte sich das junge Kätzchen und fing an, meine Arme zu umschmeicheln. Dabei schnurrte sie laut und vernehmlich. „Na, du bist mir eine!“ Der Charme der Katze nahm mich sofort gefangen. Ich hob sie hoch.

Das Tier musste durch das offene Fenster hereingekommen sein, leider passiert es immer wieder, dass sich Katzen in meine Räumlichkeiten verirren, weil ich im Erdgeschoß wohne und die offenen Fenster im Sommer geradezu eine Einladung bedeuten, speziell für Katzen, aber auch Bienen, Schmetterlinge und ähnliches Getier. Während ich die Katze nach oben brachte um sie zu füttern, fragte ich mich, wem in der Siedlung sie wohl gehören würde. Ich fragte die anwesende Familie, aber niemand hatte die junge Katze zuvor gesehen. Das schien auch keine Rolle zu spielen, denn nach dem sie den Inhalt einer halben Dose Kitekat verspeist hatte, war die Katze plötzlich wieder verschwunden. Mein Bruder erinnerte sich auf meine diesbezügliche Frage am Abend, dass er sie irgendwann am frühen Nachmittag wieder hinausgelassen hatte. Ich dachte mir nichts weiter dabei, das bisschen Futter kostete nicht die Welt, und ich wusste genau, dass umgekehrt Stocki sich von ein paar Nachbarn immer wieder gern mit Häppchen verwöhnen ließ.

Am nächsten Tag war ich im Garten beschäftigt, an meinen Rosen die welken Blüten zu entfernen. Plötzlich miaute es neben mir, und die Katze von gestern strich um meine Beine und schnurrte wieder auf ihre unwiderstehliche Art. „Na, du? Hast wieder Hunger?“ Und das Spiel vom Vortag wiederholte sich. Sie bekam eine ordentliche Portion Katzenfutter, aber diesmal legte sie sich in Stockis Korb, rollte sich ein und schlief. Ein paar Stunden später kam mein Vater mit Stocki am Arm heim. Stocki hat nämlich die ganz und gar katzenunübliche Eigenschaft, meinen Vater manchmal bei Spaziergängen zu begleiten, wie ein Hund. Als mein friedlicher Stocki aber die fremde Katze auf seinem Liegeplatz sah, lernte ich ihn das erste Mal von einer anderen Seite kennen – ich werde den Anblick nie vergessen: Stocki fauchte wie eine mächtige Raubkatze, machte einen furchtbaren Buckel und drohte mit seinen Pfoten aus denen die messerscharfen Krallen ragten.

Die Katze sprang eilig aber nicht erschrocken auf und lief zur Tür. Ich schimpfte mit Stocki, weil er sich so ungastlich verhalten hatte, aber andererseits verstand ich ihn: würde jemand, den ich nicht kenne, in meinem Bett liegen, würde ich auch nicht unbedingt freundlich reagieren. Aber anscheinend hatte mein Kater das fremde Kätzchen doch verscheucht. Es blieb ein paar Tage verschwunden, und ich hätte beinahe auf das Tier vergessen, wenn sie nicht eines Morgens bei strömenden Regen vor der Tür gestanden hätte: tropfnass, und sie jammerte Mitleid erregend. Und wie tat sie mir leid! Ich nahm sie in den Arm, tröstete, wärmte und streichelte sie und fütterte sie wieder. Dafür rebellierten unsere Katzen. Zum ersten Mal waren sich die beiden, Stocki und Minki, seine Mutter, einig: diesen Eindringling wollten sie auf keinen Fall dulden. An Minki war dieser Zug nichts Neues, aber Stocki erstaunte mich doch sehr mit seiner aggressiven Haltung, die ich an dem sonst so gutmütigen und verspielten Tier nicht kannte.

Es schien offensichtlich, Gespräche mit einigen Nachbarn belegten das, die Katze hatte keine Besitzer und es war nicht nachvollziehbar, wo sie vielleicht weggelaufen war. Ich spielte ernsthaft mit dem Gedanken, die Katze trotz der Widerstände unserer eingesessenen Katzen zu behalten. Nachdem meine Eltern keine großen Einwände machten, besorgte ich noch am selben Tag im Supermarkt ein Katzenhalsband wegen der Flöhe, einen weiteren Sack Katzenstreu für die Kiste und eine große Packung Trockenfutter, um den Futterneid unter den Katzen zu mildern. Als ich aber heimkam und meinen Einkauf abgestellt hatte, erzählten mir meine Eltern, dass die Katze schon wieder verschwunden war. Und ich hatte ihr noch nicht einmal einen Namen gegeben. Ich rief sie immer noch Katzerl, wie am ersten Tag…

Ich verstand das Verhalten der Katze nicht. Irgendwo musste sie doch sein. Sie wirkte nicht abgemagert und ausgehungert, nichts weniger als das, sie war auch nicht verwildert oder sonst verschmutzt und zottelig. Das Rätsel löste sich einen Tag später als ich von der Arbeit nach Hause kam. Einer unserer Nachbarn, Herr König, stand vor seinem Haus und trug ein Kätzchen im Arm, er kraulte es am Bauch und strahlte. Ich erkannte die junge Katze sofort, und da wurde mir auch klar, dass „Katzerl“ über ein großes Herz verfügte und ihre Gunst einigen Leuten schenkte – „…that’s why the lady is a tramp“, wie Frank Sinatra einmal so treffend formuliert hat. Natürlich sagte ich nichts, aber als die Katze bald darauf wieder bei uns auftauchte und wegen ihres Hungers bettelte, schnappte ich sie kurzerhand und brachte sie die paar Häuser weiter zu Herrn König zurück.

Das Ehepaar König war erstaunt, als ich mit dem Kätzchen vor ihrer Tür stand, vor allem als ich ihnen erzählte, dass das Tier seit zehn Tagen in unregelmäßigen Abständen zu uns zum Fressen kam und nach der Fütterung oder einer kurzen Siesta wieder das Weite suchte. Natürlich war auch den Königs aufgefallen, dass ihr neuer Liebling, der ihnen zugelaufen war, wie sie glaubten, immer wieder für einige Zeit auf Entdeckungsreise war. Dass Putzi, wie die Königs sie riefen, einfach die Abwechslung liebte und sich einmal von ihnen, dann wieder von uns verwöhnen ließen (und wer weiß von wem sonst noch!), damit hatten sie nicht gerechnet. „Wir würden sie gerne behalten“, gab Herr König zu. „Unser Moritz, der Perserkater, ist ja vor einem halben Jahr überfahren worden. Und die Putzi ist so ein herziges Tier…“ Von dieser Seite kannte ich den sonst eher wortkargen Konrad König nicht, aber ich verstand ihn schon. Der Charme dieser Katze machte es aus… Und nachdem weder Stocki noch Minki begeistert über den Katzenzuwachs bei uns daheim gewesen waren, hielt ich es für das Beste, die Katze bei den Königs zu lassen. Ich wusste genau, dass sie es dort guthaben würde.

Das Schwierige war dann aber, diesen „Vergleich“ Putzi beizubringen, die anfangs keine Anstalten machte, sich an die Abmachung zwischen den Königs und uns zu halten. Einige Male tauchte sie noch vor unserer Haustür auf und wir brachten sie jedes Mal sofort zurück. Aber nach der Sterilisation hörten sich die „Hausbesuche“ von Putzi schlagartig auf. Der große Eingriff in ihren Hormonhaushalt – Frau König hat mir bei anderer Gelegenheit einmal erzählt, dass die junge Katze vor der Operation schon trächtig gewesen war – hatte das Wesen der Katze nachhaltig verändert: sie verhielt sich nicht mehr zutraulich und neugierig bis frech, sondern ein wenig verschreckt und fast ein wenig ängstlich, wenn sie auf der Straße unterwegs war. Ich sehe sie immer wieder: eine schöne, ausgewachsene Halbangorakatze mit buschigem Schwanz, die ein Halsband mit Glöckchen um den Hals trägt. Aber wenn ich sie streicheln möchte, läuft sie davon. Doch das ist vermutlich am Besten so.

Vivienne

Schreibe einen Kommentar