Wenn ich manchmal in meine frühere Heimatgemeinde komme, spaziere ich gerne durch die ländliche Gegend, sei es mit Albert, meinem Mann, oder ab und an auch alleine. Meistens führt mich mein Weg auch an den beiden Schulen vorbei, die in den 70er Jahren, als ich dort meinen Unterrricht empfing, noch ganz anders aussahen. Die damals so modernen Flachdächer mussten weichen, weil sie undicht geworden waren. Und der Schulhof war ganz anders bepflanzt und gestaltet… Bei so einer Gelegenheit erzählte ich Ali einmal die Geschichte der Religionslehrerin Konstanze Mörtenthaler, die in der Volksschule versuchte, meinen Schulkollegen und mir Gott näher zu bringen. In Erinnerung behielt ich sie aber wegen ihrer unzähligen Geschichten voller Gottvertrauen…
Wir bestellten in dem „neuen“ Café, das es auch erst seit ein paar Jahren gab, zwei Melange und ich schürfte in dem Kessel mit meinen Kindheitserinnerungen… „Weißt du, Ali, Frau Mörtenthaler war schon damals keine junge Frau mehr, allerdings ist mir das lange nicht aufgefallen. Ihre Haare waren gefärbt und sie sprach mit uns mit dem Feuer echten Gottvertrauens. Und das hielt sie jung, zweifellos. Eine große Rolle in ihren anschaulichen Geschichten spielte ihre Familie: ihr Mann, eine Tochter und zwei Söhne. Natürlich wusste sie auch das „gottgewollte“ Rollenspiel in Beziehung und Familie geschickt einzuflechten. War sie doch selber davon überzeugt. Und so hatten ihre „Männer“ daheim das Sagen. Eine Erzählung, in der ihrer Tochter, der Ältesten, so richtig von ihren jüngeren Brüdern bewusst gemacht wurde, dass sie halt „nur“ ein Mädchen wäre und die Burschen schon wüssten, wo es lang ginge, blieb mir besonders klar in der Erinnerung haften… Da war ich nämlich nicht ihrer Meinung, absolut nicht, damals schon.“ Ich blickte meinen Mann mit einem entwaffnenenden Lächeln an…
Ali lachte laut. „Das wundert mich jetzt aber sehr!“ Die Servierkraft brachte unseren Kaffee und Albert fuhr fort. „Hast du sie eigentlich gemocht, die Frau Mörtenthaler?“ Ich dachte angestrengt nach. „Natürlich, sie war ja eine große Geschichtenerzählerin. Und das gefiel mir, ich liebte Geschichten. Und damals habe ich den Kern ihrer religiös angehauchten Fabeln weniger in Frage gestellt, das kam erst nach und nach. Mancher Mitschüler von mir lachte schon damals mehr oder weniger heimlich über sie, durchaus auch zynisch gemeint. Denn Frau Mörtenthalers Geschichten, die sich rund um ihr eigenes Leben spannten, hatten den recht offensichtlichen Sinn, uns klar zu machen, dass sich mit Gott und Gottvertrauen alles zum Rechten wenden würde. Eine sehr eindimensionale Sichtweise…“ Ich rührte gedankenverloren in meinem Kaffee.
„Die Frau Mörtenthaler hatte sicher den zweiten Weltkrieg miterlebt, sie wusste bestimmt durch das Grauen der Kriegs- und Nachkriegszeit genau, dass nicht alles gut wird – sondern einfach seinen Sinn hat. Und die Dynamik in sich trägt, dass irgendwann einmal etwas Besseres und Schöneres daraus erwächst… Aber viele der Kinder merkten schon recht bald, dass die Frau Religionslehrerin eigentlich nur fromme Märchen erzählte – und keine wirklich realen Geschichten. Der Vater einer Schulkollegin war an einem Hirntumor gestorben – wie hätte man dem Mädchen, das seinen Vater nie gekannt hatte, vermitteln können, das mit Gottvertrauen alles gut wird?“ Ali nickte betroffen. „Davon hast du einmal gesprochen, richtig. In einem anderen Zusammenhang. Du hast die Familie gut gekannt, nicht wahr?“
Ich blickte aus dem Fenster und ließ meinen Blick schweifen. So vieles hatte sich hier verändert in all den Jahren… Ich seufzte und legte die Hand auf Alis Unterarm. Nach ein paar Momenten nahm ich den Faden wieder auf. „Nun, irgendwann kam im Leben der Frau Mörtenthaler der Punkt, in dem sich ihre eigenen Erzählungen ad absurdum führten. Diese – sagen wir mal – unheilvolle Pechsträhne begann mit einer scheinbar chronischen Erkältung ihres jüngsten Sohnes. Zum Entsetzen der Familie wurde aber Leukämie diagnostiziert. Der junge Mann kämpfte, und er schien die schwere Krankheit in den Griff zu bekommen. Kurz darauf traf die Familie Mörtenthaler der nächste Schicksalsschlag. Bei einem Türkeiurlaub des ältesten Sohnes mit seiner Frau geriet das Hotel in Brand. Während der Sohn durch einen glücklichen Zufall noch mit einem Freund in der Stadt unterwegs war, verbrannte seine Gattin hilflos im Schlaf.“
Ali sah mich erschüttert an. „So eine Tragödie! Das ist ja furchtbar!“ Ich nickte. „Aber das war noch nicht alles, Albert. Der jüngere der Brüder, der selber nie viel Glück in der Liebe gehabt hatte, war immer eifersüchtig auf die harmonische Ehe des Älteren gewesen. An dessen furchtbaren Verlust zerbrach er dann selber, weil er sich so schuldig fühlte. Wenige Monate nach seiner Schwägerin wurde auch er begraben… Er hatte einfach aufgegeben, nicht mehr gekämpft.“ Wir schwiegen eine Weile. Ali hielt meine Hand. Dann fragte er mich in die Stille hinein. „Was ist aus ihr geworden? Ich nehme an, sie lebt nicht mehr…“ „Da hast du wohl Recht, Albert“, antwortete ich „Ich habe sie Jahre später einmal im Zug getroffen und ich hätte sie kaum wieder erkannt. Ihre Haare waren schlohweis geworden. Das ist fast zwanzig Jahre her und damals war sie schon weit über siebzig. Ich habe allerdings ihren Tod nicht bewusst registriert. Wenn ich ehrlich bin, dann glaube ich, dass ihr Gottvertrauen sehr tief erschüttert worden ist in dieser furchtbaren Zeit. Und doch hatte wohl alles seinen tieferen Sinn…“
Vivienne