Der Anblick Anna Rotbecks war mir in meinen Kindheitstagen vertraut wie der von kaum einem Menschen in unserer Siedlung. Sie war Witwe und deshalb immer einen Großteil des Tages mit ihrem Hund unterwegs, einem wunderschönen Golden Retriver, dem Frau Rotbeck den Namen Oskar gegeben hatte. „Oskar, Platz!“ oder „Oskar, bei Fuß!“ Diese Rufe waren mir und meinen Geschwistern so vertraut als ob sie uns selber gelten würden. Frau Rotbeck war eine schmale, um nicht zu sagen hagere Person gewesen, aber nicht klein sondern überdurchschnittlich groß. Vielleicht wäre sie für ihr Alter ganz hübsch gewesen, wenn sie, mit ihren gut sechzig Jahren, nicht mit so einem verkniffenen, schmallippigen Mund durch’s Leben gegangen wäre…
Frau Rotbeck haderte nämlich mit ihrem Leben, der unerwartete Verlust des Mannes und die Tatsache, dass sie der eigene Sohn links liegen ließ, weil sie seine Frau nicht akzeptieren hatte wollen, hatte sie mit tiefer Verbitterung erfüllt. Der einzige Sohn schlug ihre Ratschläge in den Wind! Das bekam man öfter zu hören, wenn Frau Rotbeck einmal ihre vornehme Zurückhaltung aufgab und sich endlos über das einzige Kind ausließ. Der Sohn hatte den Fehler gemacht (wenn man so sagen will), gegen den Willen seiner Eltern eine Frau polnischer Abstammung zu heiraten. So ein Schlampe aber auch, das konnte doch nur schief gehen! Frau Rotbeck, einmal in Redelaune, prophezeite immer wieder gerne, wie sehr es ihr Sohn nicht eines Tages noch bereuen würde, dass er „so eine“ geehelicht hatte!
Was nichts an der Tatsache änderte, dass besagter Sohn und seine Frau mittlerweile drei Kinder und miteinander ein schmuckes Haus in der Nähe von Passau gekauft hatten. Dort arbeitete der gute Mann auch, als Geschäftsführer einer kleinen Firma, und von einer Ehekrise war weit und breit nichts zu bemerken. Woher wir das so genau wussten? Ein Cousin von uns hatte beruflich schon länger mit dem Unternehmen zu tun und kannte Frau Rotbecks Sohn ziemlich gut. Deshalb amüsierten wir uns auch sehr offen über die „Schreckschraube“, wie wir sie nannten, mit all ihren Eigenheiten und ihrem blasierten Stolz, der einer besseren Sache würdig gewesen wäre. Diese Frau wollte doch nur ganz einfach nicht zugeben, dass sie sich geirrt hatte! Ihr Keppeln amüsierte uns zudem unbeschreiblich.
Also verulkten wir bisweilen Frau Rotbeck und ihren Hund recht gerne, vor allem, in dem wir läufige Hündinnen zu den beiden lockten. Frau Rotbeck erlitt jedes Mal beinahe einen Herzinfarkt, wenn ihr Oskar Anstalten machte, eine der Hundedamen zu besteigen. Und wir starben vor lachen, wenn Oskar von Frau Rotbeck Prügel bezog, weil er angesichts der Hündinnen ein Opfer seiner Triebe wurde – er war ja schließlich nur ein Hund! Der arme Rüde konnte ja genau genommen nichts dafür, dass wir sein Frauchen ärgern wollten… Wir waren schon rechte Satansbraten (zumindest manchmal) aber das Verhalten von Frau Rotbeck war in diesem Fall nur schwer verständlich. Ihr Retriver konnte halt den Hundedamen nicht widerstehen, während ihm sein Frauchen das Gefühl vermittelte, er verhielte sich wie ein hündischer Sittenstrolch!
Frau Rotbeck hatte in der Tat ein Problem mit allem, was mit Liebe zu tun hatte. Frustriert und vom Leben enttäuscht leistete sie sich mir gegenüber einmal einen Übergriff, den ich nicht so schnell vergessen sollte. Ich war so um die siebzehn Jahre alt als ich an einem Spätsommertag mit meinem ersten pubertären Verehrer durch die Siedlung spazierte. Wir hielten uns an der Hand, kicherten ständig und wussten vor Nervosität fast nicht, was wir sagen sollten. Meistens sahen wir uns nur sehr verliebt mit hochroten Wangen an und schließlich waren wir nach einer Stunde endlich so weit, dass wir in der Nähe des Spielplatzes in Position gingen um uns zu küssen. Ich weiß noch, ich leckte mir hundertmal mit der Zunge über die Lippen, damit sie ja nur geschmeidig sein würden und mein Vis-à-vis wusste vor Verlegenheit nicht, wie er die Arme um mich legen sollte.
Gerade als wir völlig verkrampft und schweißnass unsere Lippen aufeinander pressten, ertönte das Geschrei von Frau Rotbeck hinter uns. Wir hatten sie, völlig mit uns selbst beschäftigt, gar nicht bemerkt, aber dafür riss sie mich gleich an meinem langen, roten Zopf und schrie etwas in der Richtung, dass ich ein rothaariges Flittchen wäre und sie mir schon zeigen würde, was Anstand wäre. Der Bursch bekam überdies eine ordentliche Ohrfeige, während Frau Rotbeck noch immer an meinem Zopf riss und nicht zu beruhigen war. Der Bursch, mit dem ich an dem Abend unterwegs war, hatte aber eine gute Idee. Er begann mit Steinen nach Oskar zu werfen, worauf der Hund jaulend davonlief. Frau Rotbeck gab einen gicksenden Schrei von sich und rannte ihm hinterher – mein Glück, ich hatte schon gedacht, sie würde mir den Zopf ausreißen.
Mein Verehrer tröstete mich aber und wir haben dann bei anderer Gelegenheit ausgiebige nachgeholt, was uns an dem Abend verwehrt blieb, uns nämlich einmal in aller Ruhe das erste Mal zu küssen… Frau Rotbeck habe ich nach dem Vorfall nicht mehr oft gesehen, sie sei schwer krank, hörte ich schließlich einmal gerüchtehalber im Ort. Und in der Tat starb Frau Rotbeck noch innerhalb des nächsten Jahres. Es war ihr anscheinend schon länger nicht mehr besonders gut gegangen und unter diesem Aspekt habe ich den Vorfall längst abgehakt. Wie jemandem böse sein, der sich selbst nicht mochte…?
© Vivienne