Die besten Jahre – Die bunte Welt von Vivienne

Wieder einmal Regen! Albert war mit der Fernbedienung verwachsen und starrte ununterbrochen auf den Bildschirm: Fußballweltmeisterschaft! Tja, diese Krankheit würde sicher heilen, dachte ich mir mit einem leicht ironischen Lächeln und blätterte in der Zeitung. Ich saß am Küchentisch, ein Glas Wasser vor mir. Allerdings drang wenig vom Inhalt in meinen Kopf, obwohl sich die Schlagzeilen überschlugen… Ich musste ständig an die Frau in der Blumenhandlung denken, die ich gestern Nachmittag getroffen hatte. Eigentlich war ich nur verrückt nach dem dicken Kaktus in der Auslage gewesen, und nachdem ich ihn einige Tage umschlichen hatte, war mein Entschluss gestern Mittag gereift. Ich musste ihn haben! Ali hatte nichts gegen den neuen stacheligen Mitbewohner und als ich ihn wie eine Trophäe aus dem Blumengeschäft tragen wollte, wäre ich beinahe mit einer älteren Dame zusammengestoßen. Der Kaktus fiel zu Boden. Der Übertopf zerbrach… So ein Malheur, aber die Frau ersetzte mir den Schaden und fing mit mir zu reden an…

Ich legte die Zeitung weg. Die Frau war nett und ich half ihr, eine Pflanze als Geschenk auszusuchen. „Wissen Sie, mein Sohn und meine Schwiegertochter haben letzte Woche ihr erstes Kind bekommen, da möchte ich mich mit einem hübschen Geschenk einstellen. Was halten Sie von dieser Orchidee?“ Ich nickte. „Die neuen Orchideenzüchtungen sind an sich sehr pflegeleicht, aber sie sollten am Ostfenster stehen.“ Die Frau lachte. „Wenn ich das jetzt wüsste!“ Sie lachte schelmisch. „Keine Ahnung wohin das Wohnzimmerfenster der beiden hinzeigt. Was meinen Sie: Kann ich es trotzdem riskieren, diese Orchidee mitzubringen?“ Schließlich entschied sich die ältere Frau für einen Anturium und ich half ihr, ihn in die nahe Wohnung zu bringen. Spontan lud mich sie mich auf eine Tasse Tee ein und ich stellte den großen Blumentopf und meinen Kaktus auf eine Kommode neben der Tür.

Ich blickte mich um und zog meine Jacke aus. Während ich mich setzte, stellte die Frau zwei Tassen mit duftendem Tee auf den Esstisch. Überall hatte ich Familienfotos gesehen, Fotos der Kinder und von deren Partnern. Eigenartigerweise entdeckte ich nirgends ein Hochzeitsfoto oder ein Bild ihres Mannes. Aber ich sagte kein Wort und wir begannen zu plaudern. Die Frau war eine sehr angenehme Person und sie wirkte sehr lebensbejahend und zufrieden auf mich. „Im April war ich in Cornwall. Einfach wunderschön!“ berichtete sie von einer Reise. „Ich habe die Woche sehr genossen und würde gern wieder hinfahren…“ „Sie waren alleine dort?“ warf ich ein. „Mit einer Freundin!“ antwortete mir meine Gastgeberin. „Wir waren mit einer Reisegruppe unterwegs.“ Ich überlegte kurz, traute mich dann aber doch zu fragen. „Äh, Ihr Gatte? Ist der nicht mitgekommen?“ Die Frau lächelte unbeirrt. „Ich bin schon lange Witwe. Abgesehen davon haben meinen verstorbenen Mann solche Reisen nicht interessiert…“

„Oh, das tut mir leid!“ Am liebsten hätte ich mir auf die Lippen gebissen. So ein Fettnäpfchen aber auch! Doch die Frau lächelte unverwandt. „Das muss Ihnen nicht leid tun. Mein Mann…“ Sie machte eine kleine Pause. „Nun, ich habe vorhin beobachtet, dass Sie die Fotographien hier angesehen haben. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass keines von ihm zu sehen ist.“ Sie nickte. „Und das hat seinen Grund. Mein verstorbener Mann war ein harter, ein kalter Mann.“ Einen Moment starrte sie auf die Wand gegenüber. „Wissen Sie, unsere Ehe war ein Irrtum. Ein Irrtum von mir. Mein Mann hat mich und die Kinder geschlagen, fast täglich. Er trank auch viel zu viel und immer wieder hat er mich gezwungen, mit ihm zu schlafen. Auch wenn ich nicht wollte.“ Die Frau blieb erstaunlich ruhig bei ihrer Erzählung, obwohl es ihr sicher nicht leicht fiel, über ihre Ehe zu reden. „Ich war unglücklich, sehr unglücklich. Und ich hatte das Gefühl der Albtraum würde nie mehr enden. Ich arrangierte mich mit den Schlägen, mit dem erzwungenen Sex und damit, dass er mich finanziell kurz hielt.“

Ich schwieg betroffen. Nun war mir klar, warum es keine Fotos von ihrem Mann in der Wohnung gab. Die Frau lächelte trotzdem. „Wie gesagt, ich dachte, das Martyrium würde nie enden. Aber ich irrte… Im Herbst vor dreizehn Jahren fiel mein Mann in der Arbeit einfach um. Ein Schlaganfall, und er starb noch am Abend. Er war erst 54 Jahre alt, und ich erinnere mich genau an den Tag: es war der 27. Oktober, mein Glückstag. Ich sage es Ihnen ganz offen, mein Glückstag. Ich begriff es erst Wochen später, ein neues Leben hatte für mich begonnen. Die Kinder waren schon ausgezogen, besser gesagt geflohen, nun konnte ich endlich tun und lassen was ich wollte. Ich verkaufte das Haus und mit meiner Witwenpension konnte ich mir ein beschauliches Leben leisten.“ Ihre Augen begannen zu strahlen. „Und endlich konnte ich reisen. Was ich immer schon wollte – reisen!“ Sie leuchtete wie eine Blume, die voll erblüht war. „Zwei kleine Reisen mache ich jedes Jahr. Und sehen Sie…“ Sie schenkte sich Tee nach. „…endlich hatte ich Freunde. Während meiner Ehe hatte ich nie Freunde!“

Ich ließ ihre Geschichte auf mich wirken. Die Frau erzählte weiter, die Kollegen des Mannes hatten von seinem „zweiten“ Gesicht nichts geahnt, für sie war er ein netter, umgänglicher Mensch gewesen. Fassungslos mussten sie die Wahrheit zur Kenntnis nehmen. Aber eines wollte ich noch wissen. „Hatten Sie nie das Bedürfnis, Ihr Leben mit einem liebevollen Partner zu teilen?“ Zum ersten Mal wirkte die die Frau ernst  auf mich, sehr ernst. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, von der Ehe oder von Beziehungen habe ich genug. Nicht noch einmal…! Das jetzt sind meine besten Jahre und die lasse ich mir nicht vermiesen, nein, nie mehr!“ – Ich streckte mich auf dem Stuhl in unserer Küche und gähnte leise, als ich Alis Hand auf meiner Schulter spürte. Er grinste mich an. „Halbzeit! Hast du auch Lust auf ein Eis?“ Natürlich nickte ich und Ali verschwand in der Küchennische. Ich sah ihm nach und in diesem Moment begriff ich, dass das unsere besten Jahre waren. Die von Ali und mir…!

Vivienne

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