Der Schein kann trügen…

Albert war vor einer Weile zu einem Freund gefahren, dem er ein paar neue Filme gebrannt hatte. Ich starrte gähnend auf die Uhr, machte es mir auf dem Lesesessel bequem und versuchte mich in eine Zeitschrift zu vertiefen. Meine Konzentration ließ mich allerdings stets nach ein paar Zeilen im Stich. Und selbst dann wusste ich nicht, was ich eben noch gelesen oder vielmehr zu lesen versucht hatte… Seufzend legte ich die Zeitschrift wieder hin. Meine linke Hand auf meine schmerzenden Augen gedrückt, den Ellbogen auf die Lehne des Sessels gestützt drehten sich meine Gedanken nur um jene Geschichte, die ich heute in der Arbeit gehört hatte. Ein Kollege, mit dem ich normalerweise gar nicht so gut war, hatte uns allen vom Pech seiner Schwester erzählt, nicht ohne heftigen Druck auf die Tränendrüse… Und warum nur bekam ich diese Geschichte nicht aus dem Kopf?

Noch einmal rekapitulierte ich die langjährige Beziehung dieser mir unbekannten Frau, die der Bruder, unser Kollege, detailliert ausgeführt hatte. Hieß sie nicht Christa Anna? Ja, und fast zwölf Jahre war sie mittlerweile verheiratet, noch einmal fünf Jahre dazu war sie mit ihrem Mann, Peter, schon vorher beisammen gewesen. Dieser Peter, er war ihr erster Mann gewesen und bis dato auch ihr einziger. Das gemeinsame Glück schien perfekt zu sein, man kannte sich in- und auswendig, man war zusammengewachsen und man schien sich auch ohne große Worte zu verstehen. Bis vor drei Wochen Peter daheim ausgezogen war, ohne Vorwarnung. Christa Anna hatte zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich Peter in eine Kollegin aus einer anderen Abteilung seiner Firma verliebt und bereits seit über eineinhalb Jahren eine Beziehung mit ihr geführt hatte. Ohne dass Christa Anna etwas davon geahnt hatte, nicht das Geringste hatte auf die Affäre ihres Mannes hingewiesen. Nun, knapp an einem Nervenzusammenbruch vorbeigeschrammt, musste Christa Anna die Scherben ihrer zerbrochenen Ehe aufsammeln. Und Peter machte keinerlei Anstalten zu ihr zurückzukehren…

Ich richtete mich unvermittelt auf. Am Schlimmsten musste für diese Frau wohl sein, dass ihre Rivalin auch noch fast zehn Jahre älter als sie selber war. Von einer jüngeren Nebenbuhlerin ausgestochen zu werden, konnte man als Frau wohl gerade noch nachvollziehen, aber ausgerechnet von einer wohl attraktiven aber keinesfalls jugendlichen Weibsperson aus dem Feld geschlagen zu werden, musste Christa Anna wohl doppelt geschmerzt haben… Ihr Bruder, unser Kollege, litt mit mir jede Sekunde seiner dramatischen Schilderung mit. Dass sie sich jetzt so verloren vorkam, dass sie noch immer darauf hoffte, Peter würde zu ihr zurückkehren und manches andere, das kannte man ja schon von anderen Schilderungen verlassener Frauen. Aber warum machte mir dieses Trauerspiel so zu schaffen?

Langsam stand ich auf und ging in die Küche. Nein, kein Kaffee mehr heute Abend, auch wenn das Bedürfnis groß war, sehr groß sogar. Stattdessen gönnte ich mir etwas gegen meine Gewohnheit einen Schluck Rotwein aus einer Flasche, die Albert und ich erst dieser Tage angebrochen hatten… Was betraf mich persönlich so an dieser Geschichte? Wenn ich ehrlich war, dann war es die Ahnungslosigkeit, mit der diese mir unbekannte Christa Anna in das Ende ihrer Ehe geschlittert war. Alles an dieser langjährigen Beziehung hatte den Anschein von perfekter Harmonie und inniger Zusammengehörigkeit gemacht. Alles. Ihr Mann, dieser Peter, musste seit Monaten eine perfekte Maske getragen und zudem aus seinem Innersten eine Mördergrube gemacht haben… Kein Wort, keine leise Andeutung – aber er hatte schon länger eine andere Frau geliebt.

Ich musste an Albert denken. Meine rechte Hand krampfte sich zusammen und ich stellte das Weinglas wieder hin. Und wenn mein Mann ähnlich wie er schon länger eine außereheliche Beziehung vor mir geheim hielt? Wenn er mich schon die ganze Zeit betrog, vielleicht sogar mit einer Kollegin, wie dieser Peter seine Christa Anna? Hätte es Anzeichen gegeben, würde ich sie sie überhaupt erkannt haben? Männer waren einfach verschlossener als Frauen, sie konnten sich gut verstellen und Albert trug auch manchen Groll bisweilen versteckt mit sich herum, ehe mir auffiel, dass ihn etwas über Gebühr beschäftigte… So etwas kam hin und wieder einmal vor und der Gedanke, dass ich womöglich mit Scheuklappen herumlief und nicht begriff, dass mein Ali sich eine neue gesucht hatte, eine Jüngere, eine Schlankere… Ich bekam die Vorstellung einfach nicht mehr aus meinem Kopf.

Albert machte sich an der Wohnungstür zu schaffen, ich hörte den Schlüssel im Schloss drehen und dann tönte Alberts fröhliche Stimme an mein Ohr. Ich verstand zunächst nicht einmal, was er sagte, aber dass er bei seinem Freund ein Bier getrunken hatte, konnte ich riechen, als Ali Augenblicke später zu mir in die Küche kam und mich zur Begrüßung küsste. „…hat länger gedauert…“ konnte ich nun Wortfetzen unterscheiden und ich zwang mich, meine Lethargie abzulegen. Ali war mir schon ins Wohnzimmer vorausgeeilt, die Champions League lockte im Fernsehen und Minuten später starrte mein Mann schon gebannt auf den Bildschirm, neben sich die unvermeidlichen Chips und Cola aufgebaut und war durch nichts mehr von den Kickern im Fernsehen abzubringen. Ich beobachtete Ali eine Weile wortlos. Sah so ein Ehemann aus, der fremd ging? Sah man es überhaupt einem Mann an, wenn er heimlich eine Geliebte hatte? Vermutlich nicht, wenn er nur ein wenig clever war… Ich gab mir einen Ruck und platzierte mich neben Ali, der fast mechanisch einen Arm um mich legte während sein Blick auf den Fernsehapparat gerichtet blieb. Nicht jeder Mann musste eine Freundin haben, nicht notwendigerweise…

Nach einer wahren Begebenheit

© Vivienne

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