Jeder von uns kennt diese Zeiten, wenn die Vergangenheit plötzlich fast reell in unserem Kopf zu leben beginnt und manchmal auch mit den Gefühlen spielt, wenn etwas noch nicht ganz abgeschlossen ist, das eigentlich längst Schall und Rauch sein sollte. Man trifft auch wie zufällig Menschen, die man ewig nicht gesehen hat oder alte, fast vergessene Freunde greifen zum Telefonhörer… Man hat dann oft das Bedürfnis in der Vergangenheit zu forschen, kramt alte Fotoalben hervor oder wird unversehens mit lange vergangenen Geschehnissen konfrontiert. Manchmal scheint sich sogar die Vergangenheit überhaupt zu wiederholen, auf fast bizarre Art und Weise, und lässt vergessen geglaubte Emotionen, Liebe, Glück oder Kummer lebendig werden…
Ganz so extrem war es bei mir allerdings nicht, als mir neulich Abend auf der Linzer Landstraße in der Nähe eines Elektronikgeschäftes ein früherer Kollege von Ali, meinem Mann, und mir über den Weg lief. Amüsanterweise erkannte er mich gar nicht aber ich musste schmunzeln, denn dafür, dass er vor einigen Jahren definitiv für immer nach München gehen hatte wollen, schien er hier in Linz sehr präsent zu sein. Ich blickte dem guten Mann kurz nach, als er in die Straßenbahn einstieg. Seine Kleidung war zwar sauber, wirkte aber etwas abgetragen und nicht unbedingt sehr modern, genau wie seine Brille… Alfons Klauber, so hieß er, hatte offenbar schon bessere Tage gesehen, aber sein Outfit überraschte mich gar nicht. Andererseits war ich mir sicher: hätte ich ihn angesprochen, dann hätte er mir bestimmt sehr beredt eine überzeugende Geschichte erzählt, warum es mit dem „todsicheren Job und dem neuen Leben“ in Deutschland dann doch nicht geklappt hatte…
Alfons Klauber beeindruckte seinerzeit auch unseren Chef Rossecker, sodass dieser die freie Stelle im Lager mit ihm besetzte, obwohl er noch eine Woche zuvor verkündet hatte, so schnell würde niemand neu eingestellt werden. „Euch geht’s ohnedies viel zu gut hier, also strengt euch mal an. Faulenzen gibt es nicht mehr!“ Aber Alfons bekam den Job und machte sich außerdem schon bald sehr gut in der Arbeit, wie der Lagerchef gerne zugab. Klauber war ein unauffälliger Kollege der sich nicht in den Vordergrund drängte und wohl auch der erste, der wirklich mit allen hier auszukommen schien. Ein paar Damen schwärmten in den wärmsten Tönen von dem durchaus interessanten Mann, der allerdings verheiratet war, woran er keinen Zweifel ließ. „Meine Frau und ich sind ein gutes Team, wir verstehen uns blind und wir können uns aufeinander verlassen!“
So mancher und so manche in der Firma ließ sich beeindrucken dadurch. Ich selber auch, das gebe ich zu, aber Ali, damals nur mein Kollege, rümpfte öfter die Nase über ihn. Und auch über die Firma, die Alfons damals anscheinend gemeinsam mit der besseren Hälfte betrieb. Allerdings gehörte sie offiziell nun seiner Frau, denn Alfons war in finanzielle Troubles gekommen – er sei reingelegt geworden und deshalb laufe die Firma nun auf den Namen der Frau. Ali schüttelte meist wortlos den Kopf zu solchen Geschichten und er hielt auch nicht mit seiner Meinung zurück, als ich ihn in einer Rauchpause einmal um seine Stellungnahme bat. „Der Kerl ist ein Blender! Ich wette mit dir, dass er ein ziemlich linker Typ ist und aus Angst vor einer gröberen Strafe die Firma auf seine Frau umgeschrieben hat. Ich habe außerdem gehört, dass er längere Zeit ohne eigenes Einkommen war, weil er sonst gepfändet worden wäre. Er hatte gar keine andere Wahl, nur jetzt braucht er halt wieder Geld!“
Anfangs dachte ich mir, Ali wäre einfach ein wenig eifersüchtig auf Klauber und seinen unaufdringlichen Charme, aber nach und nach wurde mir bewusst, dass Alis Behauptungen durchaus Hand und Fuß hatten. Die Frau meines Bruders Claudio arbeitete damals bei einem Anwalt und wie es der Zufall so wollte: sie war in den Fall involviert und wusste, dass auf den netten Kollegen einige Gerichtsverfahren zukommen würden… Trotz seiner anscheinend so anständigen, verlässlichen Art war Klauber einigen Firmen viel Geld schuldig geblieben. Ich redete allerdings nur mit Ali über meine Informationen, es schien mir nicht ratsam, diese Geschichten in der Firma herum zu erzählen, wo Alfons bei Rossecker doch so einen Stein im Brett zu haben schien. Ali, das erinnere ich mich noch sehr gut, grinste breit zu meinem Bericht und nickte anerkennend: „Gut gemacht, Mädchen! Genau so etwas habe ich mir gedacht. Aber jetzt siehst du wenigstens, dass ich Recht hatte!“
Klauber räumte bald darauf das Feld. Plötzlich hatte er zugegeben, dass er sich mit seiner Frau überworfen hatte und die ach so tolle Beziehung den Bach hinuntergegangen war. Auch eine Freundin tauchte immer öfter in seinen Erzählungen auf, wobei Ali mutmaßte, dass es die wohl schon länger gegeben haben musste, denn er wusste wo Klauber wohnte und die hagere Rothaarige, mit der jener jetzt beisammen war, hatte er schon öfter dort ein- und ausgehen gesehen. Schließlich kündigte Klauber ganz überraschend und während Ali und ich mutmaßten, dass sich der nette Kollege vor den Gerichtsverfahren drücken wollte, verbreitete er die Geschichte, er hätte ein tolles Jobangebot aus Deutschland und würde dort mit der jungen Liebe ein neues Leben beginnen… Rossecker verabschiedete ihn mit Handschlag und leutseligen Worten, fünf Wochen später entdeckte ihn eine Kollegin abends im Kino. Ali selber lief er kurz darauf in einem Linzer Lokal über den Weg… Klauber hatte also wirklich nur untertauchen wollen und Rossecker bekam bei der Inventur nach Weihnachten ein mehr als nachdenkliches Gesicht, als einige nicht so gängige Artikel im Lager trotz genauer Suche einfach unauffindbar blieben – auch wenn der Computer etwas anderes behauptete.
Nach einer wahren Begebenheit
© Vivienne