Das Plastikmonstrum – von Andreas Langer

Es war einer dieser wolkenverhangenen Tage im Herbst. Der Sommer war kaum vergangen und das Gemüt hing noch den Bildern sonnenbeschienener Ausgelassenheit nach.

Doch mit dem Wetterumschwung hatten sich auch schlagartig die Anforderungen geändert. Ich wollte mein Leben entschleunigen und mich von allen Sachzwängen befreien und weil ich wusste, dass das ein Ding der Unmöglichkeit war, im riesigen Hörsaal der Uni. Das dahindämmernde Plenum ließ hier und da immer mal wieder Momente der Aufmerksamkeit aufblitzen, wenn die Professorin ihre Tonlage veränderte oder eine unerwartet ausladende Geste machte. So hatte ich jedenfalls nicht gewettet: Biochemie auf der Grundlage bereits erworbenen Wissens, empfand ich als durchaus zermürbend. Hatte ich doch im Sommer größtenteils dem süßen Nichtstun gefrönt. Als die Professorin jedoch über das Hirn zu dozieren begann, wurde ich hellhöriger „…Encephalon…, lässt sich messen…und diese beiden Areale…“.

Es ging um zwei Bereiche im Gehirn, die beim Homo sapiens miteinander kommunizieren, um Sprache zu bilden. Der Namensklang des einen Areals klang wie die Bezeichnung für einen Börsenmakler, nur das sie anders geschrieben wurde. Das zweite Areal hatte einen ähnlichen Namen wie ein ehemaliger Lehrer von mir, bei dem ich nicht gut und sozial auffällig geworden war. Somit war das Ganze einprägsam. Das gepflegte Erscheinungsbild der Professorin wurde durch ihre Art wohlakzentuierter Körpersprache auf eine höhere Stufe von Kultiviertheit  gehoben, die sich von der Etikette des Ottonormalverbrauchers absetzte.Während sie dozierte, hing neben mir an der Wand diese in blaues Plastik eingefasste Billiguhr. Ich lauschte…Klack, Klack…Klack, Klack…Pflog…Sechzig Klacks und einen Pflog, sechzig Klacks und einen Pflog, sechzig Klacks… Mal nahm ich die kontinuierliche Bewegung der Zeiger als etwas Entspannendes wahr und mal nervte es mich. Ich beobachtete mich selbst und kam zu dem Schluss, dass dies nicht von einer sich ankündigenden Nervenkrise zeugte, sondern dem Inhalt entsprechend, der mal bei mir ankam und mal nicht, variierte. Also war ich interessiert. Wir Zuhörer waren außerhalb des öffentlichen Distanzbereiches, sprich der Abstand zu unserer biochemischen Koryphäe einfach zu groß.Dann wurde ich jedoch hellhörig. „Und nehmen wir beispielsweise eine Uhr. Wieso sollte ein Mensch, der einem Urvolk entspringt, begreifen was eine Uhr ist, sprich die Bedeutung des Gegenstands, den er da sieht, erfassen können?“ Ich hob die Hand und sie rief mich auf: „Weil es sich um ein U(h)rvolk handelt!“
Sie sah mich entgeistert an. Alles lachte schallend. Doch dann stimmte auch sie mit ein. Das Ticken des Monstrums wandelte sich sogleich zu einer wohltuenden Melodie, die mein rechtes Hörorgan liebkoste, auch ihre Stimme nahm ich nun klarer wahr.

War es, weil meine Sinne durch diese impulsive Performance nun geschärft waren oder weil insgesamt mehr Stille eingekehrt war? Wenn eine Frage nicht klar beantwortet ist, habe ich das Gefühl, dass die Antwort des Öfteren „Ja“ ist.

Nach dem Vortrag ging ich in die Mensa und ließ es mir schmecken. Um meinem behäbigen Gefühl der Verdauungsträgheit hierauf das richtige Setting zu verleihen, schlich ich mich in meine Studentenbude. Die Flure waren wie leergefegt. Ich ging auf mein Zimmer und legte ich mich aufs´ Bett, legte mich frostködelnd unter die Daunendecke, schloss die Augen und kam nicht zur Ruhe. …Klack, Klack…Klack, Klack…Pflog… Sechzig Klacks und einen Pflog, sechzig Klacks und einen Pflog, sechzig Klacks…
Die Störquelle war schnell ausgemacht. Ich nahm das Plastikmonstrum, ein eineiiger Zwilling des Monstrums aus dem Hörsaal, von der Wand und entnahm ihm die Batterie. Prompt fiel ich in einen tiefen Schlaf. Traumbilder drängten sich mir auf. Ein diffuser Bilderregen meines Unterbewusstseins schoss durch mein Encephalon, ja, Frau Professorin, durch mein Encephalon. Eine klar konturierte Person konnte ich nicht ausmachen, vielmehr war es das Stimmengewirr  einer  einzigen Körpermasse, die zusammengehörte, aber irgendwie doch auch wieder nicht. Als ich wach wurde erinnerte ich, wie das so oft der Fall ist, nichts Konkretes mehr. Aber manchmal vermag ein Traum dem Bewusstsein eine Atmosphäre aufzudrücken, die es so schnell nicht wieder ablegen kann. Und wozu auch?
Trotz dieses archaischen Erlebnisses fühlte ich mich seltsam belebt und erholt. Ein einzelner Satz war jedoch hängengeblieben: „ Die Urvölker haben ein anderes Raum- Zeiterleben.“
Den Rest des Tages ließ ich mich treiben, ging eine Herbstfarbende Allee entlang und wurde zum Spielball eines Mistral artigen Windes.
Wieder zu Hause ließ ich die Uhr Uhr sein. Ich gab ihr weder ihre kupferfarbene, leistungsstarke Batterie zurück, noch  hängte ich sie an ihre gewohnte Stelle.
Die folgende Nacht schlief ich wie ein Stein, Steine träumen nicht. Am darauffolgenden Morgen überquerte ich den Campus und fand mich im selben Hörsaal, bei derselben Professorin, mit demselben Lernfach wieder. Nach der Morgenbegrüßung nahmen alle, soweit ich das überblicken konnte, auf ihren alteingesessenen Plätzen Platz. Doch sie dozierte nicht, stattdessen sah sie in meine Richtung. Adrenalin schoss in meine Venen und es herrschte eine ohrenbetäubende Stille. Die Erwartung jemand möge die Stille durchbrechen, verleiht ihr etwas Lautes. Ich erschrak sehr, als die Professorin meinen Namen rief: „ Mr. Spencer, wären sie so freundlich und würden bitte die Uhr nehmen und sie außerhalb des Saals ihr Tagwerk tun lassen?“  In einem stockenden Bewegungsablauf nahm ich sie von der Wand. Da war sie nun. Alle Augenpaare waren auf mich gerichtet. Ich schritt durch die bahnhofsartige Halle der Hochschule, ging durchs´ Portal und sodann über den Campus. Ich sah nicht mehr zurück, denn jetzt hatte ich ja Zeit.

Andreas Langer

 

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