Das Opfer

Freundschaft ist ein Geschenk, als solches, darf man es nicht als selbstverständlich ansehen. Wie in einer Beziehung können geänderte Verhältnisse und persönliche Veränderungen mit einem Mal für konträre Positionen sorgen. Und das scheinbar über Nacht… Ali stieß mich sanft an, als ich so vor mich hin grübelte. Bei einem Treffen mit Vicky und ihrem Mann war ich plötzlich an einen Fall in jener Großhandelsfirma erinnert worden, in der ich einst auch einmal angestellt gewesen war und in der ich Ali kennen gelernt hatte. Einige Zeit bevor er in die Firma gekommen war, waren in dem Betrieb zwei Sachbearbeiterinnen tätig gewesen, die nicht nur in der Firma eine enge Freundschaft pflegten sondern auch privat viel Zeit miteinander verbrachten. Die Damen, jede wohl schon gegen Ende Dreißig, hatten zusammengehalten wie Pech und Schwefel obwohl sie beide grundsätzlich sehr unterschiedlich geartet waren. Was aber die zwei nicht hinderte, sich scheinbar eng zugetan zu sein…

„Du wirst doch nicht noch immer an die beiden Weibsbilder denken, über die du mit Vicky philosophiert hast!“ zog mich mein Mann auf. „Und ist die Sache nicht schon ewig her? Wer erinnert sich überhaupt noch an die beiden, außer dir natürlich?“ Ich musste schmunzeln. Es stimmte schon, ich habe ein phänomenales Gedächtnis, und es gibt kaum etwas, das ich vergesse – außer Namen natürlich. Aber Fakten, Geschehnisse und Datumsangaben behalte ich immer im Kopf. So auch diese Geschichte, die mir eingefallen war, als wir heute Abend beim Grillen über die Bedeutung von Freundschaft diskutiert hatten… Freundschaft ist sicher nichts Selbstverständliches, sondern muss Tag für Tag neu erkämpft werden, wie die Liebe… „Nun“, versuchte ich vorsichtig einen Einwand. „Die Geschichte ist doch ein Musterbeispiel dafür wie eine Freundschaft in die Brüche gehen kann, und dafür gab es zudem einen triftigen Grund!“

„Einen Grund? Aber sicher!“ unterbrach mich Ali. „Ist da nicht einmal etwas passiert, weil sich die eine Geld aus der Börse der anderen geliehen haben soll, ohne zu fragen? Und, sag, war da nicht noch etwas? Die kleine Dicke bekam mehr Gehalt und die Dunkelhaarige hat das herausgefunden? War es nicht so?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, Ali, da ging es um mehr, um sehr viel mehr. Das waren nur die Symptome…“ Ich dachte angestrengt nach. „Ali, ich hatte immer den Eindruck, dass die Kleine ein wenig gewitzter war, einfach bauernschlau, und sich Vorteile verschaffte, während die andere einfach zusah und es geschehen ließ. Diese Kleine war in meinen Augen ein berechnendes Luder, das sich seinen ganzen Freundeskreis im Wesentlichen nur hielt, um ihn auszunutzen. Da war doch auch die Sache mit dieser Schwester von der Kleinen, die in Innsbruck lebte. Die Kleine hat einige Zeit versucht, ihre Schwester mit einem Lagerarbeiter der Firma zu verkuppeln, damit diese leichter von dort weggekommen wäre und nicht lange eine Wohnung hätte suchen müssen! Nur hat der Mann den Braten gerochen und sich gleich zurückgezogen!“

Ali grinste unwiderstehlich. „Ich glaube mich entsinnen zu können, dass du mir das erzählt hast. Ich bin auch davon überzeugt, dass du Recht hast. Die kleine Dicke hatte es sicher faustdick hinter den Ohren, und diese Dunkelhaarige hat das nicht so begriffen oder wahr haben wollen. Und für einige Zeit mag es auch gepasst haben, aber der Krug geht solange zum Brunnen bis er bricht – und dann dürfte es bei der Dunkelhaarigen einen Hebel umgelegt haben. Das Band der Freundschaft ist zerrissen, und weißt du warum, Vivi? Ich wette mit dir, da waren ohnedies schon einige Zeit Spannungen, die die Kleine in ihrer Selbstherrlichkeit unterschätzt hat. So wie ich das sehe, war das von Anfang an eine Freundschaft auf Zeit, nicht mehr. Ein paar Jahre hat es durchaus gepasst… Sag, Vivi, was war jetzt wirklich der Anlass, dass sie sich zerstritten haben?“ Ich dachte angestrengt nach.

Was diesen Anlass betraf, gingen nämlich die Meinungen weit auseinander. „Einmal lief das Gerücht, die beiden ungebundenen Frauen wären sich wegen eines Mannes in die Haare geraten. Wahr ist sicher, dass die Dunkelhaarige damals schon längere Zeit Single war. Einige Zeit nach dem Bruch, als die Dunkelhaarige die einstige Busenfreundin nicht mehr in ihre Wohnung ließ, spottete die kleine Dicke noch unverhohlen über die andere. Und behauptete boshaft, diese wäre völlig verrückt und bilde sich etwas ein. Dieser Hohn sollte der Dicken aber bald vergehen, denn als plötzlich Geld aus der Börse der Dunkelhaarigen fehlte und diese sofort die frühere Freundin verdächtigte, wendete sich das Blatt. Geliehen oder nicht geliehen, das war hier die Frage! Die Dunkelhaarige drehte mehrmals auf in der Arbeit, sodass Rossecker, der Chef, sich gemüßigt fühlte, dazwischen zu treten. Er hielt beiden eine Standpauke und herrschte sie an sich wieder zu vertragen. Dazwischen riss er Witze, wie borniert Weiber doch wären und wie unlogisch und unverständlich ihr Verhalten wäre…“

Ali nickte. „Klingt ganz nach Rossecker, der wird sich nie ändern. Und dann?“ „Tja, Ali, dann geschah etwas ganz Bizarres…“ Ich versank noch einmal in Erinnerung. „Die Dunkelhaarige wurde richtig bösartig, stichelte mit spitzer Zunge gegen die frühere Freundin, und das fast bei jeder Gelegenheit. Und diese Dicke, die schwieg plötzlich nur, tat sich selber Leid und redete von Mobbing und Kündigung. Natürlich wusste jeder, dass sie das nicht tun würde, weil sie nie auf ihre Abfertigung in über fünfzehn Jahren in der Firma verzichtet hätte. Aber sie gefiel sich einfach in der Rolle des Opfers und sie pflegte diese mit Akribie… Wenn ich mich so erinnere, Ali: ich kannte die Dunkelhaarige so nicht, und es musste sich einiges in ihr aufgestaut haben, dass sie einen derartigen Hass empfand. Als ich mich einmal mit ihr unterhielt, schlug ich ihr vor, sich mit der anderen auszureden. Aber die Frau schüttelte den Kopf: es hätte keinen Sinn mit einer Frau zu debattieren, die alles abstritt oder von Missverständnissen sprach, wo ganz offensichtlich wäre, dass diese eigennützige Absichten verfolgt hätte… Verstehst du, was die Frau ausdrücken hatte wollen? Ohne Einsicht und Reue keine Vergebung. Und kein Normalzustand… Sehr stur, aber ein wenig kann ich es nachvollziehen. In einer Firma ist das schlecht, aber da ist wohl zu viel passiert…“

„Tja, und dann?“ Ali zündete uns beiden eine Zigarette an. Ich nahm den Faden wieder auf. „Rossecker hatte irgendwann einmal genug von diesen Spannungen. Er hielt die Dunkelhaarige eines Tages an, endlich den Mund zu halten. Er würde dem Ganzen nicht mehr lange zusehen… Ein paar Wochen darauf hat die Dunkelhaarige dann gekündigt. Sie soll ganz ruhig gewesen sein, als sie es Rossecker erklärte. Sie würde ihn sehr gut verstehen, dass er Frieden im Büro wolle, aber mit der anderen sei kein Zusammenarbeiten möglich. Das koste sie zu viel Kraft… Und weißt du, die Ironie von der Geschichte ist, dass sich die kleine Dicke nicht einmal drei Monate später selber zu Fall brachte. Rossecker kam dahinter, dass sie einigen ihrer Freunde bei Einkäufen hier Sonderkonditionen gemacht hatte, was nicht mit Rossecker abgesprochen worden war. Die Kleine tat recht erstaunt, wieso das denn ein Malheur wäre, worauf Rossecker, der einen besonders schlechten Tag hatte, sie kurzer Hand rauswarf. Ich kann mich noch an ihr Gesicht erinnern, als sie aus dem Chefbüro kam, Ali – ungläubiges Staunen war in ihre Züge gemeißelt. Offenbar hatte Rossecker sie schon länger und aus triftigen Gründen auf der Schaufel gehabt, aber das nur nebenbei…“ Ali sog an der Zigarette. „Und dann war wieder Friede im Büro… So kann es jedenfalls kommen.“ Er kicherte leise. „Ich bin wirklich froh, dass du nicht mehr in der Firma arbeitest… Wer weiß, wir würden uns vielleicht auch zerstreiten!“

© Vivienne

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