Am Land sind die Menschen üblicherweise abergläubischer als in der Stadt. Gerüchte entstehen schneller, und indifferente Ängste und Vorurteile halten sich länger. Länger als man glauben möchte, obwohl zur gleichen Zeit unsere Welt den Aufbruch in eine ganz neue Ära begonnen hat und die Technik wie die modernen Wissenschaften, so sollte man meinen, jedes Verhaften an altem Denken unterbinden, ja abtöten müssten. Trotzdem hat vor allem der Aberglaube eine starke Wurzel in der Seele der Menschen verankert, und wenn sich einmal dergleichen festgesetzt hat, dann lässt er sich nicht mehr wirklich ausrotten – oder nur ganz schwer…
Meine Heimatgemeinde liegt im Donautal, einer Gegend, wie sie schöner nicht sein könnte. Die Donau hat von jeher die Menschen angezogen, so stand schon vor über dreißig Jahren ein schmuckes Häuschen am Donauufer, das ein Herr Mahler mit seiner Frau bewohnte. Herr Mahler war schon lange krank, wie in der Gemeine aber kaum jemand ahnte. Es fiel zwar auf, dass er immer dünner wurde und sein Gesicht wirkte von mal zu mal mehr zerfurcht, aber dass der ehemalige Eisenbahner schon vor einiger Zeit an einem schweren Krebsleiden erkrankt war, wusste kaum jemand. Umso überraschender verbreitete sich im Winter vor bald zwanzig Jahren die Nachricht unter den Leuten in unserer Gemeine, dass er verstorben war und das nicht einmal zuhause sondern im Spital.
Die Mahlers hatten halt doch immer ziemlich abgelegen gewohnt, das wurde aber vielen Leuten zu spät bewusst. Man sprach Lena Mahler, seiner Witwe, zwar obligat das Beileid aus, ansonsten aber versank die Frau in ihrer Einsamkeit, ohne dass es die Leute besonders kümmerte. Die Kinder der Frau lebten schließlich in Deutschland und hatten sich dort eine neue Existenz aufgebaut. Der Alltag hatte die Leute bei uns zudem fest im Griff, und wer dachte da an eine Frau – O-Ton: „weit weg vom Schuss“ – die einem nicht sehr oft in den Sinn kam. Wie bei der Erkrankung ihres Mannes erkannte kaum jemand, dass Lena Mahler schwer depressiv geworden war und mit ihrem Leben nicht mehr zurecht kam. Statt zu reden, zog sie sich noch mehr von den Leuten zurück. Ihre Todessehnsucht wollte trotzdem niemand bemerken obwohl der eine oder die andere bisweilen meinte, dass sie manchmal schon sehr komisch reden würde…
Im späten Frühjahr, drei Monte nach dem Tod ihres Mannes, wurde die Leiche der Frau Mahler schließlich aus der Donau gefischt. Sie musste schon Tage im Wasser gelegen sein, wie die Obduktion ergab. Aber niemand hatte Frau Mahler vermisst, keiner von uns, nur ein paar Frauen, die gerne ihr ach so soziales Engagement zeigten, geißelten sich halbherzig mit Selbstvorwürfen, warum sie nicht öfter bei Frau Mahler vorbeigeschaut hätten… Das Haus selber stand bald zum Verkauf, ein Makler war von Lena Mahlers Kindern beauftragt worden, einen neuen Besitzer zu suchen. Aber schon bald danach tauchten die seltsamen Gerüchte auf, dass es bei dem Häuschen und in der näheren Umgebung davon spuken würde. Von seltsamen Lichtern war die Rede, von merkwürdigen Geräuschen und einem unheimlichen Gefühl, das einen in der Nähe immer befallen sollte – angeblich halt.
Ich weiß heute selber nicht, was ich davon halten darf. Selber kam ich nur sehr selten dort vorbei und mir fiel auch nie etwas Äußergewöhnliches auf. Das heißt, nervös war ich natürlich jedes Mal, und immer gefasst auf eine merkwürdige Begegnung der dritten Art. Ehrlich, ich kann mir gut vorstellen, dass sich in dem Fall jemand einen schlechten Scherz erlaubte hat, absichtlich Leute erschreckte oder gezielt ein Gerücht in die Welt setzte. Ob aus diesem Grund oder aus einem anderen, es dauerte doch einige Zeit, bis das Haus endlich einen Käufer fand. Ein junges Paar aus der Steiermark, das aus beruflichen Gründen nach Linz verschlagen worden war, verliebte sich in das Haus und kaufte es.
Innerhalb von ein paar Jahren gestalteten die beiden ihr neues Domizil völlig um. Das Dach wurde neu gedeckt, es erhielt einen neuen Außenanstrich und einen wunderschönen lebenden Zaun aus Weidenzweigen, die kreuzweise in die Erde gesteckt wurden und schnell wurzelten. Keine Rede von Gespenstern, keine Rede von Irrlichtern und allen Unkenrufern von Besserwissern bei uns zum Trotz: Die Familie lebt heute noch dort, sehr zufrieden, zwei Kinder wurden dort geboren und im Lauf der Jahre siedelten sich andere Leute in der Umgebung dort an. Keine Rede mehr von einsam und abgelegen. Das Haus einer Selbstmörderin muss nicht notwendigerweise Unglück bringen…
© Vivienne