Unsere Gesellschaft, die an sich keine Tabus mehr kennt, pflegt allerdings auch ihre besonderen Scheinheiligkeiten, und das in bestimmten Fällen sehr gekonnt. Mir fiel das schon beim Tod des homosexuellen Modezaren Mooshammer auf, als jeder die Nase rümpfte über die sexuellen Vorlieben dieses Mannes, der nicht so viel anders gewesen war als die meisten anderen: manchmal so und dann wieder ganz anders und der sich überdies sozial einmal sehr engagiert hatte. Als kürzlich der „Bulle“ Ottfried Fischer einer quasi „Halbseidenen“ auf den Leim gegangen war, die scheinbar jetzt noch mit Nacktfotos und einem Tagebuch aus der Zeit mit dem in Liebesdingen eher biederen bayrischen Mannsbilds Kapital schlagen möchte, musste ich meinem Unmut allerdings lautstark Luft machen.
Vor allem als ich an einem Nachmittag zu lesen bekam, wie manche Leute die Nase rümpften über die verstohlenen Bordellbesuche des bayrischen Schauspielers und Kabarettisten, die der Affäre einhergegangen waren, ließ ich daheim ein paar spitze Bemerkungen vom Stapel. „Die sollen doch einmal vor der eigenen Tür kehren! Scheinheiliges Pack! Lies dir das einmal, Ali!“ Meine bessere Hälfte lachte auf. Rein zufällig hat Ali ja am selben Tag Geburtstag wie Ottfried Fischer, nämlich am 7. November, auch wenn er sonst gar nichts mit ihm gemeinsam hat. „Ich geb’ dir völlig Recht!“ meinte er, nachdem er den Artikel überflogen hatte. „Was kaufst du dir dieses Waschblatt überhaupt? Steht doch nur Dreck drin!“
Ich musste räuspern und zugeben, dass ich mich die Neugierde gepackt hatte – ansonsten würde ich doch nie… Ali lachte noch lauter. „Natürlich. Und bei mir in der Arbeit in der Abteilung hängt auch nur rein zufällig ein Kalender mit Damen in dürftigen Dessous…“ Mein Mann griff nach der Zeitschrift und entsorgte das Blatt mit den färbigen Seiten im Karton mit den alten Zeitungen. „Aber du hast ganz sicher Recht, und was soll ich als Mann schon Großartiges dazu sagen? Schließlich habe ich dir selber erzählt, dass ich in meiner Sturm- und Drangzeit auch ein paar Schöne für ihre Spezialdienste bezahlt habe… Mein Gott, ich wollte es ausprobieren, ich weiß nicht genau, warum. Wir waren meist kollektiv dort, Freunde von mir und ich, und ich glaubte mich irgendwie selber beweisen zu müssen, als wäre es etwas Besonderes… aber ich habe es getan. Wie so viele…“ Albert schien einen Moment zu überlegen. „In so einem Zusammenhang dann einem populären Schauspieler wie Fischer das Ende der Karriere vorauszusagen, weil er, der sexuell sicher als eher unbedarft einzuschätzen ist, im Bordell war, ist geradezu grotesk.“
Ali zuckte die Achseln. „Im Grunde geht fast jeder Mann einmal in ein Bordell, der eine öfter, der andere weniger oft. Kein Wunder, dass dieses Gewerbe daher floriert wie kaum eines und keine konjunkturellen Einbrüche kennt. Weißt du…“ Ali drehte sich zu mir und grinste breit. „Ein Onkel von mir, Gerald, hat uns, meine Familie, sehr gern besucht, bevor er überraschend früh vor bald zwanzig Jahren verstorben ist. Onkel Gerald stammte aus der Provinz und immer wieder hat er uns augenzwinkernd erzählt, was sich in dem kleinen Café bei ihm in der Kleinstadt dort so zu nächtlicher Stunde abgespielt hat.“ Albert in Redelaune und ich ganz Ohr, ohne selber ein Wort zu verlieren – das gab es nicht so oft. Mein Mann fuhr fort, während er sich wieder zu mir setzte.
„Ja, und Onkel Gerald war ein netter älterer Mann, der die Menschen kannte. Dieses Café in seiner Heimatstadt grenzte nämlich an ein Bordell. Natürlich hatte das Bordell einen eigenen Eingang, aber um abzukürzen nutzten viele Kunden der käuflichen Damen einen Durchgang im Café, der direkt zu den Räumlichkeiten der „Schönen der Nacht“ führte.“ Ali sah mich amüsiert an. „Und Onkel Gerald konnte von seinem Sitzplatz aus stets illustre Gäste dieses Bordells beobachten, Gäste, die im Verlangen nach käuflicher Liebe nicht scheuten, mitten durch die Tische im Kaffeehaus zu drängen und dabei auch erkannt zu werden…“ Mein Mann strich sich eine seiner leicht angegrauten Locken aus der Stirn.
„Männer, die sich durchaus offiziell für die Erhaltung der Tugend engagierten und Prostitution manchmal auch verdammten. Sogar den Bürgermeister seiner Stadt will Onkel Gerald öfter gesehen haben, wie er sich ins Bordell begab. Obwohl daheim eine Frau und fünf Kinder auf ihn warteten. Gerald hat erzählt, dass er sich aus diesem Grund gern in das Kaffeehaus setzte um sich anzusehen, wer sich denn heute wieder besondere Dienste erfüllen lassen wollte. Ein interessanter Beobachtungsposten, den der Onkel da entdeckt und eingenommen hatte… Albert suchte in seiner Hosentasche nach seinen Zigaretten. „Und genau aus dem Grunde verstehe ich deinen Unmut wirklich gut. Was die Leute in der Causa Fischer mit ihren Entrüstungen aufgeführt haben, ist verlogen, nichts als widerliche Doppelmoral. Wie heißt es so schön im Neuen Testament? Korrigiere mich, Vivi, wenn ich mich irre, aber da steht doch irgendetwas von Wer frei von Sünde ist, der werfe den ersten Stein! Dieses Denken wäre in der Tat mehr als nur angebracht!“
© Vivienne