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22.11.2005, © Vivienne

Der Seitenspringer 

In unserer Küche herrschte gepresste Freundlichkeit. Meine Cousine Sarah saß am Tisch, rührte in ihrer Schokolade und gefiel sich in übertriebenem Selbstmitleid. Albert stand am Fenster, betont unauffällig, und langweilte sich offensichtlich. Zwischendurch sah er immer wieder auf die Uhr und ich blickte ihn deswegen missbilligend an. Dann lauschte ich wieder den Erzählungen meiner weitschichtigen Verwandten. Sie hatte gestern Abend überraschend angerufen und vor Wut schnaubend erklärt, sie hätte Gerhard, ihren Mann, jetzt endgültig verlassen. Ihre Bitte, mich zu besuchen, um sich aussprechen zu können, hatte ich schwer ablehnen können. Was mir aber jetzt schon leid tat: Albert war sauer auf mich und ich musste nun schon seit mehr als einer Stunde Sarahs Gesülze ertragen, das mir ziemlich auf den Geist ging.

„Ich weiß, ich nerve dich nur!“ Sarah zerdrückte eine Träne in ihrem Gesicht. Ich beeilte mich, dem zu widersprechen, auch wenn Sarahs Aussage nicht nur den Nagel auf den Kopf getroffen hatte sondern genau genommen noch ziemlich untertrieben war. „Schau Sarah, ich verstehe dich gut. Da Gerhard dich so oft betrogen hat, war es nur eine Frage der Zeit, dass du die Konsequenzen ziehen würdest.“ Ich nickte ihr, aufmunternd sein wollend, zu. „Natürlich verstehe ich, dass du leidest, aber irgendwann wirst du sehen, dass es das Richtige war. Kopf hoch!“ Anscheinend wirkte ich mit meinen Worten nicht sehr überzeugend, denn Sarah sah mich misstrauisch an und eine steile Falte hatte sich an ihrer Nasenwurzel gebildet. Ihr Handy begann zu klingeln.

Sarah schreckte zusammen. Abwesend warf sie einen Blick auf das Display, dann stand sie auf. „… ich muss weg, eine Freundin wartet auf mich…“ Wir umarmten uns kurz, dann tauschten wir Phrasen aus. „Bis dann!“ rief ich ihr nach. „Lass mal wieder was von dir hören!“ „Untersteh’ dich!“ drohte Albert, als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war. „Wenn sie das nächste Mal kommt, bin ich nicht daheim!“ Ich öffnete den Mund, um meinem Mann eine Predigt zu halten. Auch wenn er im Grunde Recht hatte und Sarah keine Person war, die man als einfachen Charakter bezeichnen konnte und ihr Ehedebakel sie sicher noch nerviger als sonst gemacht hatte: sie war und blieb meine Cousine, der ich nicht so ohne weiteres die Tür weisen konnte.

Albert sah mich aufmerksam an, als ich ihn um mehr Verständnis bat. Schließlich verschwand er in der Küche und kehrte mit einer Flasche Cola zurück, die er aus dem Kühlschrank genommen hatte. Schweigend goss er sich ein Glas ein, trank einen Schluck und zwinkerte mir zu. Furchtbar, Ali konnte einfach nicht ernst bleiben! Ich wich seinem Blick aus, weil ich ihm nicht zeigen wollte, dass ich selber schon grinste. Ein paar Minuten saßen wir uns schweigend gegenüber. Schließlich begann ich unvermittelt zu erzählen. „…Gerhard ist immer schon fremdgegangen. Sarah hatte einfach Pech mit ihm gehabt oder sagen wir mal so: Sie wollte nicht wahr haben, dass er sich nicht ändern würde. Sie hat ihn schon oft wegen seiner Seitensprünge verlassen und ist jedes Mal wieder zurückgekommen… Ohne ihn hielt sie es einfach nicht aus.“

Albert zündete sich eine Zigarette an. „Verzeih, wenn ich das sage, aber warum sollte sie dann jemandem Leid tun? Sie hätte sich längst einen anderen Mann suchen können, einen besseren Mann. Es fällt mir schwer, mit so einer Frau Mitleid zu haben.“ Ich legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander und versuchte mich zu konzentrieren. Mein Mann hatte sicher Recht, ohne Zweifel, aber seine Sichtweise war nur die eine Seite der Medaille. „Weißt du, Ali, sie hat ihn geliebt, sie liebt ihn noch immer. Und auch wenn es schwer vorstellbar ist: auch Gerhard liebt sie, du kannst dir keinen fürsorglicheren und zärtlicheren Mann vorstellen als ihn.“ Ich grinste Ali neckisch an. „Außer dir vielleicht. Aber… er ist ein netter Mann, nicht schwierig und kein typischer Fremdgänger. Er hat sie niemals ausgenutzt oder geschlagen. Aber er braucht einfach Abwechslung. Eine Frau genügt ihm nicht. Er sucht andere Frauen, um nach dem Abenteuer erleichtert festzustellen: daheim habe ich ja doch die Beste.“

Albert dachte nach. „Komischer Kerl. Da haben sich doch die beiden richtigen gefunden, würde ich sagen, denn Sarah ist ja auch eine – sagen wir mal – unübliche Person. Ich verstehe nur nicht, warum sie ihn deswegen verlässt? Jetzt, nach so vielen Jahren?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, das mag mir nicht in den Kopf!“ Ich lächelte leise ihn mich hinein. „Das musst du auch nicht verstehen. Außerdem wird Sie auch wieder zu ihm zurückkehren, so wie jedes Mal.“ Albert hob die Augenbrauen. „Bist du sicher? Sie klang ziemlich bestimmt heute Abend….“ Ich starrte neben Albert ins Leere. „Du hast auch nicht gesehen, wer sie angerufen hat, kurz bevor sie ging. Aber ich konnte einen Blick auf das Display werfen… Glaub’ mir, Ali, die beiden feiern heute noch Versöhnung, ich kenne Sarah gut… So wie Gerhard sich immer wieder als Seitenspringer übt, muss Sarah ihn ab und zu verlassen…

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