Annabell

Neujahrstag 2008! Im Zeitlupentempo öffnete ich meine Lider um einen Blick auf den Radiowecker links neben meinem Bett zu werfen. Ungefähr 50 Mal so schnell schloss ich die Augen wieder, schockiert und einigermaßen wach – konnte es wirklich schon fast 12:30 Uhr sein? Mir war doch so, als wäre es gerade erst ein paar Minuten her, dass Ali und ich aus dem Taxi gestiegen waren um mit dem Lift in unsere Wohnung zu fahren… Zugegeben, ab da klaffte in meinem Gedächtnis eine Lücke, etwa, wie ich ins Bett gekommen war und – huch – wer mich ausgezogen hatte, das war mir alles irgendwie entfallen. Alis Stimme klang wie Lichtjahre weg, als sie an mein Ohr drang… „Vivilein! Machen wir uns einen Kaffee?“ Ich seufzte und räkelte mich unter der Decke… Kaffee? Das hörte sich gut an, sehr gut an, sagten die Franzosen nicht „la potion magique“? Oder was war das noch einmal für ein Gesöff, das Asterix in rauen Mengen wie Wasser trank und mit dem er soooooooo stark wurde, immer wieder?

Es war fast 13:00 Uhr, als ich versonnen in die Sonne blinzelte, die durch das Küchenfenster herein schien und la potion magique, will sagen, der Kaffee mich langsam wach werden ließ. Ali hatte sich ins Bad begeben um zu duschen und um sich zu rasieren, ich hatte ihn gebeten darum, da sein Drei- (oder Mehr-) Tagesbart mich beim Küssen schon ziemlich kratzte und nun versuchte ich den gestrigen Abend und die Nacht revue passieren zu lassen… Bruchstückhaft gelang mir das schon, wir waren bei Vicky und Bert eingeladen gewesen, die ihren mittlerweile schon zweieinhalbjährigen Sohn Georg bei den Schwiegereltern gut versorgt wussten. Die beiden setzten uns ein vorzügliches Käsefondue vor, wir lachten, aßen und tranken vor allem viel und unversehens war es fast halb vier Uhr morgens geworden. Richtig, dann hatte uns Bert ein Taxi gerufen und wir hatten ewig ausharren müssen, weil so viel los gewesen war in dieser Nacht…

Laute Musik riss mich aus den Gedanken… Ali war, frisch rasiert, in der Küche erschienen und hatte das Radio angemacht. Gott, war die Musik laut…sie hämmerte geradezu in meinem Kopf. Albert lachte, küsste mich auf den Hals und auf den Nacken und setzte sich zu mir. „Toast gefällig?“ Mir wurde übel bei der Vorstellung, nein, essen wollte ich noch nichts… wirklich nicht. Ali schenkte mir noch eine Tasse Kaffee ein und ich musste plötzlich an diese Geschichte denken, die mir Vicky nach Mitternacht in einer ruhigen halben Stunde, als unsere Männer mit Raketen schießen beschäftigt waren, erzählt hatte… „Mein Chef möchte, dass ich, wenn möglich ab sofort ganztags arbeite, wie vor der Karenz. Ich muss ihm noch diese Woche Bescheid geben.“ Ich hatte genickt. „Warum so plötzlich? Hat er nicht, als du wieder zu arbeiten begonnen hast, gemeint, dass es absehbare Zeit keinen Vollzeitjob für dich gäbe?“ Vicky hatte am Sekt genippt. „Das war vor einem halben Jahr, mittlerweile hat sich einiges getan. Annabell hat gekündigt!“

Ich hatte kurz nachgedacht. Sollte mir der Name etwas sagen? Aber Vicky war nach einer kurzen Pause schon fort gefahren. „Annabell, unser Mauerblümchen; und schon eine ganze Weile in der Firma. Eine von der Sorte, die unentbehrlich sind in einer gewisser Art und Weise, die aber nie Karriere machen, weil es dafür andere gibt… Und Annabell, die nie besonders aufgefallen war, ist in den letzten zwei Jahren wirklich sehr wichtig geworden für die Firma. Das Mutterunternehmen in Zeltweg hatte uns schon vor einiger Zeit finanzielle Mittel gekürzt, ein paar Leute mussten sogar gehen und das war irgendwie die Initialzündung für Annabell. Sie trat in hervorragender Art und Weise in Erscheinung: sie machte Überstunden, sie kam oft am Wochenende rein und war kurz gesagt immer da, wenn man sie brauchte – oder fast immer… In der Zeit hatte sie sich von ihrem Langzeitfreund getrennt, der sie nur hintergangen hatte, und das dürfte sie immer gehemmt haben, so dass sie in der Firma vorher nie besonders aufgefallen war. Mit eine Rolle, zumindest am Rande, dürfte dabei auch gespielt haben, dass sie für den Cousin unseres Chefs, in der Logistik, immer eine Schwäche gehabt hatte, aber der war schon zwanzig Jahre verheiratet und hat wohl auch nie etwas bemerkt davon, dass Annabell ihn angehimmelt hat.“

Ich begann langsam zu frieren, da Vicky das Fenster im Wohnzimmer gekippt hatte. Das Fernsehgerät lief noch, „An der schönen blauen Donau“ umschmeichelte das Ballett, das sich anmutig zur Melodie bewegte. „Und deshalb ist sie gegangen? Weil der Kerl sie nicht erhört hat?“ Vicky widersprach kauend, sie hatte sich gerade ein Lachsbrötchen in den Mund geschoben. „Nein, natürlich nicht. Ich glaube, das hat sie sowieso gewusst, dass das nie was werden wird, aber so ein bisschen Verliebtheit kann ja auch recht gut beflügeln… Nein, das war es nicht, es war wohl eher die Tatsache, dass sie den Posten als Chefsekretärin nicht bekommen hat, auf den sie so hingearbeitet hatte… Das wäre mit Sicherheit finanziell und auch prestigemäßig der Job gewesen, den sie immer haben hatte wollen. Aber Herr Lausinger, unser Chef, hat sich nach der Pensionierung seiner langjährigen rechten Hand für eine andere, eine Quereinsteigerin, entschieden. Und das hat sie gebrochen…!“ „Und das war jetzt erst?“ erkundigte ich mich, während ich nach meiner Handtasche schielte. Eine Zigarette hätte mich jetzt glücklicher gemacht als alle Lachsbrötchen dieser Welt. Vicky widersprach mir abermals. „Nein, das war im Herbst, Vivi, und auch wenn sie damals noch nicht gekündigt hat: ihr Elan war mit einem Mal weg und ihre ganze Energie. Sie hat sich nicht damit abfinden können…“

Lautstarkes Gelächter unserer Männer klang vom Balkon ins Wohnzimmer. Ich räusperte mich und versuchte, meinen Blick von der Handtasche mit den Zigaretten abzulenken – die Geschichte von Annabell interessiert mich im Moment nur marginal, trotzdem hörte ich zu, als Vicky den Faden wieder aufnahm. „Das ist natürlich jedem aufgefallen. Bei einer kleinen Firmenfeier sind ein paar Kollegen dann auf die verrückte Idee gekommen, dass alles, was die Annabell jetzt wirklich brauche, ein Mann wäre, dann wäre sie wieder glücklich und voller Arbeitseifer. Hirnrissig im Grunde. Die Leute haben die Idee dann aber wirklich umzusetzen versucht, einer setzte einen ungebundenen Bekannten auf die Annabell an, aber die Sache kam nicht so wirklich in Gang. Ist ja auch logisch, wenn du mich fragst, bei Annabell ging es um weit mehr als nur um körperliche Bedürfnisse, sie fühlte sich um die Früchte ihres ganzen Einsatzes im Büro betrogen und das ist für mich nachvollziehbar.… Und als dieser Bekannte dann bei einem der wenigen Treffen der beiden noch auf den dummen Gedanken kam, ihr an die Wäsche zu gehen, weil der Idiot glaubte, sie bräuchte ein wenig Anregung, dann würde sich der Rest schon von selbst ergeben, hatte Annabell endgültig genug von ihm. Irgendwie muss sie dann auch dahinter gekommen sein, dass hinter der matten Liebe ein paar Kollegen steckten… Es gab danach einen heftigen wie kurzen Streit, ich war leider nicht da, ich arbeite ja nur an zwei Tagen in der Woche, aber ein paar Wochen später hat Annabell dann wirklich gekündigt…

Albert blickte mir ins Gesicht. „Alles okay, Viv?“ Ich nickte, richtete mich auf und musste doch wieder an diese Annabell denken. Das Berufsleben war hart, und nicht jeder konnte die ganz große Karriere machen oder auch nur eine kleine, aber ich konnte diese Frau in ihren verletzten Gefühlen verstehen. Beschämend genug, dass es Leute in Vickys Firma gab, die offenbar glaubten, man könnte die Frau mit etwas Sex und Pfeffer wieder zu Höchstleistungen animieren, Höchstleistungen in der Arbeit – dabei hatte sie sich doch vor allem auch und vielleicht mehr als alles andere nach beruflicher Anerkennung gesehnt – aber das hatte dort niemand begriffen… Absolut niemand.

© Vivienne

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