Leute jenseits meiner Jugend waren schon immer sehr alt.
Alter war etwas, dass ich immer mit tiefen Furchen, die sich in Gesichter gefressen hatten oder kantigen Unterkiefern, die ständig malten oder hohen lichten Stirnen, in die sich auch die lange irdische Verweildauer mittels harten Falten verewigt zu haben schien.
Manchmal machte ich den Zustand des Alterns auch an unmodernen Brillengestellen fest.
Alte Leute trugen nun mal altmodische Brillen.
Er musste sehr alt sein. Er war für mich schon immer sehr alt.
Ich hatte ihn seinerzeit zum ersten Mal getroffen als ich meine Großtante in Gelsenkirchen Horst besuchte, sozusagen als „Sommerfrischler im Kohlenpott“.
Es waren die Ruhris, die mit Sack und Pack und Hund und Kinderschar im „Vauwehkäfer,“ während der Aufbauphase der sich soeben emanzipieren zu wollende Bundesrepublik in unserem schönen Südbaden einfielen, um endlich ihre verkohlten Lungen wieder an eine normale Erdatmosphäre zu gewöhnen, damit die Restlebensjahre möglichst unversehrt in ihren tiefen Kohlenzechen zu überleben waren.
Muss schon ein ganz besonders widerstandsfähiges Volk gewesen sein, diese gemeinen Ruhrgebietler.
Großtante Maria, Tante meiner Mutter, war dem Johannes in Ostpreußen sozusagen in die Arme gelaufen, wo er zum Ende des Krieges im Lazarett gelegen und von ihr der gelernten Oberschwester, wieder auf die Beine gestellt wurde. Und das muss man so wie geschrieben, schon wörtlich nehmen.
Großtante Maria hatte in ihrem Leben schon so einiges an Mannsbildern wieder auf die Beine gestellt.
Johannes war Bergmann in Recklinghausen vor dem Kriege und Großtante Maria war ihm in den Pott gefolgt, als Rehabegleiterin sozusagen.
Maria war ihrem Johannes in den Pott gefolgt, weil sie diesen „kloanen Buor do nett noamal in sein Unglick loafe losse woite“, halt der Liebe wegen!
Nun begab es sich zu der Zeit, dass meine Mutter die Kammern von uns Kindern ganz gut mit diesen Sommerfrischlern aus dem „Schwarzen Erdteil“, wie das Ruhrgebiet bei uns geheißen hatte, füllen konnte und dieser Mehrertrag neben dem der Fallobstwiese schon immer, der Haushaltskasse einen ordentlichen Schub verpasste.
Wir Kinder wurden also auf die Verwandtschaft verteilt.
Sommerfrischler im Kohlenpott!
Gefragt wurden wir nie! War auch scheinbar nicht nötig, weil „a bisserl Luftveränderung hat no nie irgends geschoat“!
Im Juni den Ranzen gepackt, ein Schild um den Hals mit Adresse und Ziel und dann dem Zugbegleiter überantwortet, wurde die wilde Truppe von drei südbadischen, freiheitsliebenden und gar nicht sich zivilisiert gebenden Buben auf das große Abenteuer Bahnfahrt ins Ruhrgebiet geschickt.
Rudi musste nach Bochum. Da wohnte die während des Krieges an den Bodensee evakuierte „Tante Doris“, Mutters beste Freundin aus der Zeit. Diese betrieb dort mit ihrem Mann Anton ein Friseurgeschäft seit dem Kriegsende.
Fränzchen, unser Benjamin ging nach Duisburg zu „Tante Lisken“, der Schwester von „Tante Doris“ und nachmaliger Kindergärtnerin.
Mein trauriges Los hieß „Tante Maria“, Maari wie sie bei uns schon immer hieß.
Maari war wie gesagt in ihrem früheren Leben eine sehr gefürchtete Oberschwester mit einem gewissen Hang zu körperlichen Ertüchtigungen jeder Art, was in diesem Falle auch in jedem Falle, ganz wörtlich zu nehmen ist.
Er wohnte direkt neben der Großtante in der kleinen Bergmannsiedlung, die aus Zechenhäusern aus der Zeit um die Jahrhundertwende bestand.
Er war sehr alt, wie mir mit meinen damals etwa acht Jahren es vorgekommen sein musste.
Alt weil zerfurcht, alt weil kantig und alt weil unmodisch gekleidet.
„Adolf ist tot!“ Mutti schaute mich ziemlich entgeistert an. „Du weißt doch der alte Knacker der neben Marie in Gelsenkirchen wohnt, bei dem Du doch so oft gesessen hast und der Dir doch soviel über das Deutschland früherer Jahrzehnte erzählt hat. Der alte Nazi, halt!“
Ich konnte mich natürlich sehr gut an Adolf erinnern. Er, der trotz seines Alters immer sehr schneidig daherkam. Er der trotz seines Alters immer ein sehr seltsames Funkeln in den Augen hatte und der mir in langen Sitzungen vom vergangenen Stolz des Deutschen Reiches erzählte und mir weismachen wollte, dass ich die Chance und der Stolz des Deutschen Volkes wäre, wenn es uns endlich gelänge, die Fesseln des verlorenen Krieges abzuschütteln und die Schmach des geteilten Vaterlandes endlich zu überwinden.
Tante Maari und Onkel Johannes hatten es gar nicht gerne, dass ich bei dem „Alten Nazi“ hockte und mir dessen Traum vom „Dritten Reich“ anhörte. Andersherum konnte es auch nicht schaden, wussten sie doch beide, dass ihre Leidenschaft von gutem, jungem Deutschen Blut von diesem sonst so abscheulichen Nachbarn geteilt wurde und „es nicht schaden könne“, der verzogenen Jugend endlich ein wenig „Zucht und Ordnung“ beizubringen.
Tage bei Tante Maari liefen exact nach dem gleichen Schema ab:
Mitten in der Nacht, also Punkt sechs in der Früh wurde geweckt und um halb sieben gabs Frühstück. Davor wurde sich gewaschen und angekleidet. Gewaschen im Gegensatz zu daheim, auf dem Hof über einer Zinkwanne mit kaltem Wasser.
Samstags wurde gebadet im Keller in einem Waschzuber, in dem über die Woche die schmutzige Wäsche vom Onkel weichte, der „aufm Pütt malochte“.
Adolf lief schon früher auf dem Hof umher um sich mit seinen Kaninchen und den Tauben zu unterhalten, die er in einem abgeschlossenen Anbau hielt.
In die Schule brauchte ich nicht, wir am Bodensee hatten im Gegensatz zu den hiesigen Kindern Ferien, was die Tante allerdings nicht davon abhielt mich mit dem Onkel aus dem Bett zu werfen.
Hernach gings in den Garten zum Unkraut zupfen und schlimmstenfalls mittels Schaufel neue Kulturen von irgendwelchen mir völlig unbekanntem und daher auch gleichgültigen Gemüsen anzulegen.
Adolf kam mir gerade Recht, wenn er am Gartenzaun stand und mir zuwinkte.
Wenn die Tante ihres wehen Rückens wegens, im Haus verschwand, ging ich hinüber zu Adolf, wo schon ein Glas Milch auf mich wartete und er mir anhand von Blaupausen die ganze Herrlichkeit seines Traumes namens „Germania“ erklärte.
So sollte „seine“ Hauptstadt des Deutschen Reiches heißen und solches hätte die Welt noch nicht gesehen und diese Hauptstadt würde alle sieben Weltwunder und sogar solche Superlative wie New York oder Tokio in den Schatten stellen, von Paris ganz zu schweigen.
Ich muss gestehen, dass ich Superlative zu dem Zeitpunkt in keinster Weise irgendwie zuordnen konnte.
New York, Tokio und auch Paris konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen und Paris hatte auch nur in meinem Kopf einen kleinen Funken entzündet, weil mein Vater in der Armee des „Großen Soldaten Charles de Gaule“ an der Befreiung eben dieses Paris beteiligt war, worüber dieser allerdings nicht so sehr gerne redete, auch wenn wir Buben ihn immer darum baten.
Dieses Germania aber hatte eine sehr plastische Wirklichkeit bekommen, durch die mit funkelnden Augen und Begeisterung vorgetragenen Schilderungen dieses Alten.
„Zweihundert Meter breite Alleen, kilometerlang schnurgerade durch die Metropole gezogen. Eine „Halle des Deutschen Volkes“ für hunderttausend Parteigenossen, die Kuppel dreihundertzwanzig Meter hoch, doppelt so hoch wie der höchste Kirchturm Europas, kannst Du Dir das vorstellen?“
Konnte ich mir mit meinen vielleicht acht Jahren nicht wirklich.
Aber der Alte konnte eine Vorstellung davon in meinem noch jungen Herzen erwecken und noch eine ganze Zeit lang hatte ich die Vorstellung, ich müsse dafür sorgen, dass das Deutsche Volk in Zukunft wieder solche Werte für erstrebenswert hielte.
Adolf hatte eine geradezu dämonische Art sein Anliegen, zum Anliegen Anderer zu machen.
„Toni, i mag es nett wennst weiter zu dem oiten Nazi gescht, hörscht? Onkel Johannes hat wegen derer seine schwere Kriegsverwundung , wegen derer Nazi, derer!“ Tante Maaris ultimativ vorgetragene Ansage war klar, wie vergeblich.
Adolf hatte nach dem Krieg als Kauenwärter aufm Pütt gearbeitet. Was er vorher gemacht hatte, wusste keiner so genau. Man munkelte so allerhand. So dachten einige, dass der bei den Nazis wohl ne große Nummer war und irgendwas von SA oder WaffenSS wurde geschwafelt.
Alles Begriffe, die sich mir in ihrer Bedeutung verschlossen.
Mein Vater war Franzose aus der Besatzungsarmee und meine Mutter war katholisch und hatte mit „derer Bagasch eh nix zu tue“, drum half es nichts, hier sein Wissen zu vervollständigen.
Adolf beantwortete mir alle meine Fragen mit der ihm eigenen Begeisterung.
Adolf schien keine Familie zu haben.
„Früher hatte ich mal eine Frau, Eva! Sie ist aber in den letzten Kriegstagen für das Vaterland gefallen, in Berlin.“
Adolfs Bestimmtheit des Vortrages, ließ Nachfragen nicht zu, so schien es.
„Wir hätten mit Germania unsere Überlegenheit der ganzen Welt gezeigt und Deutschland hätte endlich den ihm zustehenden Platz in der Geschichte bekommen. Aber ich habe ganz einfach nicht die richtigen Leute um mich gesammelt. Ich habe Schuld daran, dass ich deren kleinliche Krämerseelen nicht erkannte.“
Adolfs Stimme bekam immer einen seltsamen Klang, der mich an meinen Großvater erinnerte, der aus dem Österreichischen Waldviertel stammte.
Die „Waldviertler“ betonen immer den Buchstaben „R“ besonders hart.
„Mit den richtigen Leuten hätte ich es schaffen können. Die Vorsehung hatte es gut mit mir gemeint, aber ich war zu schwach, ich hätte durchgreifen müssen mit eiserner Faust und diese Brut vernichten.“
Adolfs Augen blitzten und blinkten bei diesen Worten, bei denen wieder das „R“ waldviertelgemäß, betont in der Luft zu schweben schien.
Vom Waldviertel und der sprachlichen Ausdruckskraft der Bewohner wusste ich auch noch nichts zu der Zeit.
Tante Maaris Abneigung dem alten Nazi gegenüber, hielt mich davon ab, hier oder bei Onkel Johannes Aufklärung einzufordern.
„Kinder hatte ich nie, meine Bestimmung war es, das Deutsche Volk von dem Joch von Versailles zu befreien.
Meine Bestimmung lies das Leben eines Vaters nicht zu. Ich hatte zu dienen und das habe ich getan.“
Tante Maaris Verbot hatte für den „kleinen Soldaten, Deutschlands Zukunft und Chance“ keine Bedeutung.
Kleine Soldaten mussten nur ihrem inneren Auftrag, ihrem inneren Befehl folgen und notfalls ihr Leben für ihr Vaterland geben.
Wenn es dann nach vier langen, unmenschlich langen Wochen wieder nach Hause, bepackt mit Unmengen selber Eingemachtem ging, stand Adolf am Zaun und winkte wortlos.
Zunächst hätte die Idee meiner Mutter wegen, ein umlaufendes Austauschen der Söhne bedeutet, was aber der Umstand das Rudi sich in Käthchen verliebt hatte , dem Nachbarsmädel von Tante Doris und Fränzchen sich mit dem Leiter des Delfinariums in Duisburg angefreundet hatte, was seinen Berufswunsch Tierarzt den Anstoß gegeben hatte, endgültig vereitelte.
Ich fuhr drum immer nach Gelsenkirchen und Rudi und Fränzchen immer nach Bochum und Duisburg.
Nun also war Adolf tot.
Näheres war nicht zu erfahren. Onkel Johannes hatte nur rausgekriegt, dass er wohl schon seit Tagen, vielleicht Wochen nicht mehr auf der Strasse gesehen worden war und man ihn schließlich am Treppengeländer hängend aufgefunden hatte.
Selbstmord wäre nicht ausgeschlossen, hieß es.
Als die Nachricht bei uns eintraf war ich schon fast fertig mit meiner beruflichen Ausbildung, also schon fast fertiger Diplom Ingenieur.
In den zuvor vergangenen Jahren hatte ich, so glaube ich mich zu erinnern, beinahe jedes Jahr in Gelsenkirchen meine Lungen mit Kohlenstaub aufgefüllt um für die kommenden Aufgaben gewappnet zu sein.
Die kommende Aufgabe eines „jeden Deutschen Jungen, der sich seinem Vaterland verpflichtet fühlt und hart wie Kruppstahl sein müsse“.
Etwa ein halbes Jahr nach der Nachricht bekam ich von einem Nachlassverwalter aus dem Ruhrgebiet eine riesige Mappe mit Plänen sowie eine Menge an Papprollen mit Blaupausen zugeschickt.
Germania!
(C) Chefschlumpf im Juli des Jahres 2007