Der alte Bey stocherte mit einem langen Palmwedel in der verglimmenden Glut.
Die Wüste hatte schon vor Stunden ihr mattes Gelb gegen bleierne Schwärze getauscht.
Der Bey schaute mich fordernd an.
Ich wusste, dass ich nun wohl an der Reihe wäre im Rund der Karawanen-Touristen für Unterhaltung zu sorgen.
„Erzähle uns etwas, das uns deine Welt näher bringt. Man sagt, dass Euch das Besitzen oft nur des Besitzes wegen erfreut oder befriedigt.“
Leicht fröstelnd schnürte ich meine Kapuze etwas fester, schaute in die Runde der in Erwartung Verharrenden und ertappte mich selber dabei, in einer bestimmten Erinnerung zu schwelgen.
„Ja, mein lieber Bey, wir im Westen haben oft nur dann das Gefühl für Reichtum, wenn wir so etwas wie Neid bei anderen erzeugen können. Dabei liegt das Glück oft genug vor unseren Füßen und wir vermögen nur nicht, es zu sehen.“
Leise begann ich meine Schilderung.
„Lieber Bey…“,
fing ich an, wobei nicht extra zu bemerken wäre, dass dieser Mann, der uns bis hierher an die Flanke des Atlas gebracht hatte, ein überaus gebildeter Bey war.
„… es ist sehr seltsam, doch aus den Ereignissen der letzten Tage blieb mir immer nur ein Begriff im Gedächtnis. Wir sind ihnen begegnet, haben unser Wasser mit ihnen geteilt, das Brot mit ihnen gegessen und sie schließlich im Sonnenglast wieder aus den Augen verloren. Was war es, das sie trieb?“
„War es Verführung, mein Sohn?“
Verführung, in der Tat! Unbotmäßige Verführung nur?
„Die Welt war einst geteilt. Zwei Blöcke blickten sich, bis an die Zähne bewaffnet über den Zaun an, der die äußeren Grenzen der jeweilig eifersüchtig bewachten Territorien bildete.
Dann, es kam beinahe über Nacht, erschien der Engel mit dem Flammenschwert und zerschlug mit gut geführtem Hieb die stählernen Maschen dieser nur Unglück über die Menschen bringenden Befestigung.“
Leises Gemurmel aus den Mündern der Karawanengenossen begleitete meine Ausführung. Des Beys Gesicht reflektierte nun die Glut des Feuers.
„Und nun, da die Welt ungeteilt einer frohen Zukunft entgegen sah und die letzten Potentaten nur noch durch Schergen der Geheimpolizei, sich in Freiheit wähnen konnten, erwachte das gehörnte Ungeheuer wieder, fraß die Väter und verlangte von den Söhnen zornig seinen Zoll.“
Die stählerne Sichel des Mondes ließ den fernen Horizont nur erahnen und das Schwarz des nahen Gebirges schien sogar seinen Schatten in die Wüste zu graben.
„Und das Ungeheuer begann damit. die Menschen in den Städten zu verschlingen. Nicht wenige Väter scharten ihre Lieben um sich und beschlossen, ohne den Verlust der Heimat übermäßig zu beweinen, in fremde Länder zu ziehen, immer die Furcht vor dem Ungeheuer im Nacken spürend.“
„Ja,…“,
der Bey fixierte mit mich mit scharfem Blick, wobei ich die Stärke dieses Menschen beinahe körperlich fühlte,
„… das Ungeheuer, welches wir mit Allahs Hilfe, dessen Namen ich nicht genügend zu preisen vermag, in die Hölle verbannt zu haben glaubten, hat nun alle bösen Mächte hinter sich gesammelt. Ihre schwarzen Fetzen Tuch mit den satanischen Versen bringen nun auch Tod und Vertreibung in die einsamsten Dörfer der Fellachen.“
Diese ungeheure Präsenz des Alten machte beinahe betroffen. Mich unbeeindruckt gebend, versuchte ich den Faden meiner Geschichte wieder aufzunehmen.
„Und die Väter, mit den Söhnen auf dem Rücken, und die Weiber, die Töchter mit sich ziehend, querten die Wüsten. Sie erklommen die Felsen, unentwegt in Ermangelung von Wasser ihre Spucke kauend. In der Ferne der Nacht gab ihnen der Mond das Geleit, während des Tages die Sonne ihre Stirne dörrte. Und dann endlich gelangten sie an die Gestade des Meeres, dessen anderes Ufer die Erfüllung all ihrer Wünsche verhies.“
Selber von meiner Berichterstattung ein wenig beeindruckt, verlange mich nun nach kühlendem Nass. Lediglich die gierigen Blicke meiner Reisegefährten, die seltsam gefesselt an meinen Lippen hingen, ließen mich, auch darob Triumph erahnend, den Durst heldenhaft unterdrücken.“
„Sag schon…“,
mich unterbrechend, ließ ein kleinwüchsiger Brite aus dem Kreis der Gefährten mich stocken.
„…sie wollen nach Europa?“
„Nein, nicht wollen! Sie kamen! Einer Schwemme gleich, die scheinbar endlos über das Meer und die Berge zog, nur von den Einheimischen dann gegrüßt, wenn ihr Ziel ein weiteres war. Und eines der fernsten Ziele war Britannien!“
Innerlich triumphierend, nun über das Betroffenheit signalisierende Gesicht des Angelsachsen, kratzte ich eine einfachst gehaltene Europa-Karte in den sich nun ein wenig feucht anfühlenden Sand. Mit der Eindruck heischenden Silhuette des Inselstaates gab ich mir besonders große Mühe.
„Britannien, natürlich die Briten! In Calais lassen sie uns einfach wie Wäsche im Wind des Kanals hängen. Schotten dicht, inclusive Linksverkehr. Und wir müssen dafür ihre Röhre zum Festland mit Zähnen und Klauen verteidigen.“
Es war der spindeldürre Mann aus der Normandie, der nun den Faden des Rotbäckigen weitersponn.
Seltsam, wenn ich mir diese Beiden so anschaue, die sich stets ein wenig abseits der restlichen Reisenden hielten, so muss ich doch eine gewisse Ähnlichkeit mit zwei längst Verstorbenen aus der Kinowelt meiner Kindheit konstatieren.
„Wir steigen einfach aus! Der Premier hat uns die Freiheit vom Europäischen Größenwahn versprochen. Solche Sehnsüchte in die Köpfe dieser Leute zu pflanzen? Wer war es denn, der sie aufforderte? Der ihnen eine Zukunft in Saus und Braus versprach? War das nicht die immer sich in Sorglosigkeit, nett und freundlich Gebende, jedoch dem Volk der Griechen die Kandarre?“
War dieser Apell des Briten scheinbar an den Franzosen gerichtet, so war mir klar, dass ich der Adressat der Beiden sein musste. Ich beschloss also, anstatt mein Gleichnis mit Ungeheuer, Angst und rettendem Hafen vor dem Unheil weiter zu führen, es lieber auf die folgende Nacht zu verschieben.
„Nun gut, ich verstehe! Nur, die Verführung durch eine von Kamelen in den Sand getrampelte Spur der Karawane liegt nicht etwa in deren Breite, sondern immer nur in der Bereitschaft, der somit auf Tod und Leben aufeinader Angewiesenen. Keiner alleine, nur die Gemeinschaft der Gefährten lässt sie das abendliche Ziel erreichen. Und ich möchte auch noch einen Schritt weiter gehen…“,
nam ich wieder mein Grundthema auf,
„… und nur gemeinsam werden wir auch mit dem wieder erwachten Ungeheuer fertig.“
Nein, nicht Aplaus hatte ich erwartet, eher Widerspruch. Doch, beide blieben stumm, während ich nun doch noch nach der Wasserflasche griff.
Morgen würden wir wieder alle in unseren, fein temperierten Allräderfahrzeugen sitzen und, in den Wüstenführern blätternd, die alte Wüstenstadt aus der Historie einer längst vergangenen Kultur bestaunen.
Ich nahm einen besonders tiefen Schluck und schaute in die Runde.
Milde lächelnd schaute mich der alte Bey an und ich bemerkte, dass das beinahe erloschene Feuer auf sein sonnengebräuntes Gesicht, immer noch das goldene Leuchten legte.
© Chefschlumpf Weihnachten 2019