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09.07.2005, © Vivienne
Sorgentröster Alkohol?
Heute stach mir wieder eine dicke Schlagzeile in einer Tageszeitung ins Auge: Ein Geisterfahrer, der drei Menschen auf dem Gewissen hat, wurde von seiner Mutter beredt verteidigt: Der Sohn habe sich in den Alkohol geflüchtet, als ihm seine Gefährtin die Trennung angekündigt hatte Das Mitgefühl vieler Österreicher wird diesem armen Mann gewiss sein, ersticken doch nicht wenige bei uns Kummer und Sorge in hochprozentigen Getränken. Davon konnte ich mich erst jüngst selber wieder überzeugen, als ich vor ein paar Wochen am Wiener Westbahnhof auf den Zug in die Heimat wartete. Gegen 23:00 Uhr saß ich auf einer Bank, neben mir ein Mann um die Dreißig, der einem Bekannten ungeniert schilderte, wie er daheim regelmäßig zu trinken anfangen würde, wenn er sich in seinem Selbstmitleid suhlte.
Der bedauernswerte Single köpfte also tatsächlich regelmäßig eine Bierdose nach der anderen, wenn er wieder des Alleinseins überdrüssig war. Was mich bei der sehr offenherzigen Schilderung am meisten schockierte: der Mann verriet in der Unterhaltung mit dem Spezl unmissverständlich, dass ihm Bier früher gar nicht geschmeckt hatte. Aber seit er sich das süffige Gerstengetränk öfter verabreichte (oder sich damit abfüllte, wie man das auch immer sieht), fand er auch Gefallen am herben Geschmack Ich amüsierte mich köstlich über die unfreiwillige Komik in den Sätzen. Und in der Folge auch darüber, was der junge Mann mit seinen Ausführungen über sich selber und seinen Charakter verriet. Im Besonderen über seine Beziehungstauglichkeit
Ich muss ja nicht des langen und des breiten um den heißen Brei herumreden, liebe Leser Sie wissen im Grunde genau, worauf ich hinaus will. Und ich könnte Ihnen eine beredte Predigt halten über die Gefahren des Alkohols bis hin zur Sucht und zur Selbstzerstörung. Das habe ich des Öfteren auch schon getan in meinen kritischen Beiträgen, auch meine Kollegin und Schwester Sarkastika fand bisweilen schon harte Worte in diesem Zusammenhang. Aber das möchte ich jetzt hier an dieser Stelle nicht unbedingt fortführen oder wiederholen. Sondern lieber auf ganz andere Aspekte hinweisen, die man auch nicht vernachlässigen sollte in Bezug auf Alkohol und seinen Genuss. Und damit sind wir beim Punkt, liebe Leser, denn Alkohol ist doch vorrangig ein Genussmittel.
Wein oder Bier werten jede gute Mahlzeit auf, ob nun Geflügel oder Rind, Wild oder Fisch: erst mit dem passenden Wein kann so ein Mahl auch zum Hochgenuss werden. Und dagegen spricht auch überhaupt nichts. Obwohl ich selber kaum Alkohol trinke, und wenn dann wirklich nur in ganz kleinen Dosen, weil ich einfach nichts vertrage, würde ich nie bestreiten, dass Alkohol in Qualität und Maßen genossen gutes Essen noch bekömmlicher macht, durch seine Enzyme verdauungsfördernd wirkt und ein echter Gaumenschmeichler sein kann. Damit meine ich allerdings nicht Wein im Tetrapack oder Bier in der Dose. Diese Getränke wird jeder Feinschmecker ob ihrer Minderwertigkeit ignorieren.
Alkohol zu trinken, nur weil ich sauer oder mit mir im Unreinen bin, gehört zu einer seltsamen Lebensphilosophie. Ein Rausch löst keine Probleme, im Gegenteil, diese kommen am nächsten Morgen wieder so sicher wie der obligate Kater auftaucht und für Kopfschmerzen sorgt. Ich selber bin in meinem Leben nicht unbedingt von Kummer und Leid verschont geblieben, haderte oft mit meinem Schicksal, aber mich zu besaufen erschien mir nie als Alternative geeignet sondern nur als Flucht vor der Realität. Das möchte ich klarstellen. Warum andere trotzdem darin den Sorgentröster par exzellence erkennen wollen, hat sich mir bisher nicht eröffnet. Wohl schon mangels eigener Rauscherfahrung, muss ich fast vermuten. Vielleicht scheint einem in diesem Dämmerzustand die Welt nicht mehr so grausam und furchtbar, aber selbst wenn das so wäre, dann trotzdem nur für die Dauer dieser Entrücktheit. Mit dem Abbau des Alkohols wird die Welt auch wieder so wie sie immer war, und diese Erfahrung bleibt keinem noch so geübten Kampftrinker erspart.
Wenn Sie mich fragen, liebe Leser: bei den Sorgentrinkern wie den eingangs erwähnten hapert es vorrangig an der Einstellung zu sich und zur eigenen Existenz. Einfach saufen zu beginnen, weil die Welt nicht so ist, wie ich sie mir wünsche, lässt vor allem auch Reife vermissen. Oder die fehlende Bewältigung einiger wichtiger Entwicklungsschritte. Niemals würde ich von jemandem verlangen, meine gewollte Abstinenz zu leben, weil das auch erst jemandem liegen muss. Ähnlich wie das fleischlose Leben der Vegetarier. Ich habe halt auch nicht das Gefühl, das mir etwas abgeht, wenn ich Alkohol meide. Aber bevor sich jemand wieder eine Minipalette Dosenbier an einem Abend reinkippt, sollte er sich vielleicht doch zuerst die Frage stellen, warum er so unglücklich ist und ob sich dieser Zustand nicht auch anders lösen lässt als mit einem Rausch und viel Selbstmitleid .
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