In so mancher meiner vorangegangenen Geschichten habe ich euch von Stammgast Jürgen erzählt, mit dem ich schon so manchen langen Abend im „Cafe Steiner“ verbracht habe. Es sollte sich im Laufe der Zeit zeigen, dass zwischen uns eine gewisse Seelenverwandtschaft besteht, wenn es darum geht sich über ungewöhnliche Initiativen auszutauschen. Ich erinnere mich noch gut daran, als mir Jürgen davon erzählte, dass er ein Klassentreffen organisieren wolle. Es würde ihm einfach reizen, wenn er über 15 Jahre nach dem Ende der Schullaufbahn seine ehemaligen Klassenkollegen wieder sehen könnte. Auch wenn dieses Treffen dann letztlich nie umgesetzt wurde muß ich eingestehen, dass mir die Idee durchwegs sympathisch erschien.
Jürgen wohnt seit einigen Jahren mit seiner Familie in einer Genossenschaftswohnung im 2. Bezirk, die nur wenige Gassen vom „Cafe Steiner“ entfernt liegt. In vorangegangenen Gesprächen hatte er mir stets versichert, dass er sich dort auch sehr wohl fühlen würde. Schade wäre es lediglich, dass die einzelnen Mieter kaum einen Kontakt zueinander pflegen würden und es wäre ihm ein persönliches Anliegen die Hausgemeinschaft unter den 60 Nachbarn zu fördern. Meinen Einwand, dass eine gewisse Anonymität in einer Großstadt auch nicht allzu ungewöhnlich sei wollte Jürgen nicht so recht gelten lassen. „Da muß man doch etwas dagegen tun können“, befand er und ich konnte schon durchaus ein wenig spüren, dass Jürgen darüber nachdachte welche Initiative er setzen könnte.
Kurze Zeit später sollte sich herausstellen, dass ich mich nicht getäuscht hatte. Jürgen erzählte mir bei einem weiteren Besuch in unserem Stammcafe, dass er eine Hausversammlung ins Leben gerufen hätte und die Mieter sich in rund drei Wochen erstmalig im „Cafe Steiner“ einfinden würden. Er hätte sich mit einigen Nachbarn darüber ausgetauscht, die ihm zusicherten an einem solchen Treffen teilzunehmen. Über die Postfächer des Hauses hätte er nun jedem Bewohner einen Flyer zukommen lassen, in dem die Hausversammlung angekündigt wurde. Auch wenn die Resonanz auf den Flyer vorerst gering ausgefallen wäre konnte man beobachten, dass Jürgen guter Dinge war.
Kellner Martin konnte sich dennoch die Frage an Jürgen nicht verkneifen, warum er sich einen solchen Aufwand antun würde. „Das ist doch kein Aufwand“, konterte dieser, „und irgendeiner muß doch mal den ersten Schritt setzen.“ Er wolle bei dem Zusammentreffen erfahren, ob die Bewohner Veränderungswünsche im Haus hätten, die er dann an die Hausverwaltung weiterleiten könnte. Die Leute sollten sich bei diesem Treffen aber auch einfach besser kennenlernen. „Schließlich wohnt man unter einem Dach“, befand Jürgen. Wenn ihr jetzt den Eindruck gewonnen habt, dass der junge Mann mit seiner Zeit nichts anzufangen wisse wäre dies weit gefehlt. Ich denke, dass es Jürgen einfach um den Reiz an der Sache ging.
An dem besagten Dienstag Abend, an dem die Hausversammlung dann stattfand, war es mir leider nicht möglich im „Cafe Steiner“ vorbeizuschauen – ich hätte aus einer gewissen Neugierde heraus gerne einige Eindrücke gesammelt. Aber bereits vergangenen Samstag hatte ich die Gelegenheit Jürgen in unserem Stammlokal wiederzusehen und zu dem Ablauf der von ihm initiierten Hausversammlung zu befragen. „Es war schon halbwegs okay“, meinte Jürgen ein wenig zerknirscht, „es hat halt gerade einmal knapp ein Drittel der Nachbarn vorbeigeschaut und lange geblieben sind sie auch nicht.“ In erster Linie wurde von den Mietern vorgebracht, dass die Betriebskosten zu hoch wären, wobei eine bereits erfolgte Überprüfung die Korrektheit der Abrechnung bestätigt hatte. Auch einige wenige Nachbarschaftsstreitigkeiten wurden angesprochen – doch, so hatte ich den Eindruck, war das Zusammentreffen nicht ganz nach den Vorstellungen von Jürgen verlaufen.
„Eine Zusammengehörigkeitsgefühl läßt sich halt nicht erzwingen“, folgerte Jürgen durchwegs ein wenig selbstkritisch. „Aber was hast du dir denn erwartet?“, wollte ein anderer Stammgast nun wissen. „Auf diese Frage kann ich dir gar keine klare Antwort geben. Aber vielleicht hatte ich erhofft, dass auch andere Mieter ein wenig Initiative in der Hausgemeinschaft zeigen wollen.“ Er würde es keinesfalls bedauern, dass er das Treffen organisiert hätte. Wenn er den Versuch nicht unternommen hätte, wäre es doch auch schade gewesen. Ich kann sehr gut verstehen, was Jürgen meinte …
Pedro