Er mag schon länger als eine Stunde da gestanden haben. Ich hatte ihn aber erst bemerkt, als der Dicke zusammen mit der blonden Frau längst schon wieder gegangen war.
-Wer bist du?- hatte ich ihn gefragt.
Er hatte nur still in sich hinein gelächelt.
Der Dicke hatte noch zuvor an mir herum gemacht, was ich still und gefasst über mich ergehen lassen musste. Als schließlich auch noch die Frau dazu gekommen war, schien es wohl zwischen den beiden einen kurzen Disput gegeben zu haben, der dann aber mit seiner Entschuldigung in meine Richtung beendet war.
-Du bist so zart, beinahe durchsichtig, mein Kleiner.-
Er war auf meine Worte, scheu wie ein Rehkitz an mein Bett heran getreten. Seine kleinen Fingerchen hatten meine Rechte ergriffen und ich bemerkte sofort, tief in mir, eine aufwallende Unruhe.
„Willst du mir nicht etwas über das tote Kamel erzählen und darüber, wie das Fleisch nach drei Tage in der Sonne liegen, wohl geschmeckt haben mag?“
War er mir noch wie ein Zweijähriger vorgekommen, so war ich mir nun gar nicht mehr so sicher. Auch seine Haut, soeben noch so durchsichtig wie Plexiglas, hatte etwas an Farbe bekommen.
Seltsam, da lag ich nun, festgezurrt und nur noch mittels Technik und der höchst zweifelhaften Hingabe eines ungeheuer Beleibten am Leben gehalten und meine Augen spielten mir kleine Streiche.
-Das Kamelfleisch, sagst du? Du willst wissen, wie totes Kamel schmeckt? Noch dazu, wenn es zuvor drei Tage in der Sonne lag und vor lauter Fliegen kaum noch als Solches erkennbar ist? Nach drei Tagen in der Afrikanischen Sonne schmeckt Fleisch überhaupt nicht mehr nach Fleisch. Wenn es jetzt nur lange genug gekocht wird und mittels vieler, geheimnisvoller Kräuter in einen einigermaßen genießbaren Zustand versetzt, hat es einen ganz eigenen Geschmack. Ich erinnere mich noch heute so, als wäre es erst gestern gewesen.-
„Ja, das interessiert mich und warum es mich gar nicht gibt. Los erzähl schon.“
Seine Aufregung war nicht zu übersehen und obwohl mich seine Neugierde eigentlich überraschen müsste, konnte irgendetwas in mir so etwas wie eine Befriedigung erahnen lassen. Endlich würde wohl eines der größten Rätsel in meiner Biografie gelöst werden müssen?
-Ostafrika, Äthiopien, du willst etwas von mir über dieses Land erfahren? Wer bist du denn und warum interessierst du dich so für mich?-
Hatte er auf mich noch wie ein Kleinkind gewirkt, glaubte ich nun auf einmal, einen Knaben von etwa acht Jahren vor mir zu haben.
„Ja, mach schon. Mach schon! Erzähl mir von dir! Wir sind alle schon sehr gespannt darauf, von dir zu erfahren, wie es damals war.“
Er hatte von sich in der Mehrzahl gesprochen. Ich konnte mir zunächst keinen Reim darauf machen. Tat ich auch gar nicht. Meine Gedanken waren schon in die Vergangenheit unterwegs.
-Es mag vierzig Jahre oder länger her sein.
Verena und ich waren zum drittenmal in Adis Abeba gelandet. Ich hatte sie beim ersten Male einfach mitgenommen und keiner der Kollegen hatte etwas dagegen gehabt.-
„Erzähl von Anfang an, …bitte!“
War seine Ermahnung mir ein wenig forsch vorgekommen, hatte sein zart nachgetragenes „bitte“, daraus ein wenig an Schärfe getilgt.
-Meine Graduierung als Ingenieur gerade erst in der Tasche, hatte mich der Ruf von Jonas aus Äthiopien erreicht. Nun gut, dachte ich mir, wenn es Jonas dort aushielt warum dann nicht auch ich? Jonas, musst du wissen, ist mein älterer Bruder. Unsere Mutter, auch das musst du wissen, war eine sehr streng religiöse und überaus bibelfeste Frau, die ihren Kindern dann natürlich auch nur biblische Namen gab.-
„Daher auch Lukasz?“
-Nein! Das war Verena, meine Frau. Die ist aus der Tschechoslowakei und ich glaube, ihr Großvater hieß so. Daran war Mutter also für diesmal unschuldig.-
Sah es für mich nur so aus, oder hatte sein Gesicht eine Welle aus Trauer überflutet? Nein, doch nicht, es schien wohl nur so.
-Wir hatten in einem der „Italiener-Vororte“ der Stadt ein schönes Haus bezogen und Verena doch innerhalb kürzester Zeit so etwas, wie ein Wunder vollbracht und darin europäische Gemütlichkeit gezaubert. Was gar nicht so einfach gewesen sein konnte, musste sie doch ungeheure Anstrengungen und weite Autofahrten auf sich nehmen und eine ganze Menge Geld in die Hand. Und das natürlich nur, um den ganzen Kram zusammen zu kaufen. Gardinen und schwere Vorhänge und Teppiche und sonstige Dekorationen. Sie hatte Nestbau wohl zu ihrem neuesten Hobby erkoren und wer wäre ich wohl gewesen, es ihr verbieten zu wollen?
Am meisten ärgerte sie sich dann ja auch, dass sie tagsüber immer die Blendläden zulassen musste. Unsere Klimaanlage wurde mit Hitzegraden so um die Fünfzig, nur sehr unzureichend fertig.-
„Und wann hast du es dann erfahren?“
Ich wusste ganz genau, worauf er anspielte, tat aber so, als hätte ich es überhört.
Nun hatte ich einen eher Sechsjährigen an meinem Krankenbett stehen. Seine Haare waren schwarz gelockt und seine Haut ein wenig cremefarben. Er erschien mir aber dabei so fremd und nah zugleich.
Woher konnte ich diesen Knirps eigentlich kennen?
Bevor ich fortfahren konnte, war dieser ungeheuer dicke Pfleger in der Tür erschienen, zu uns geschlurft und hatte das laute Tüten irgendeines der Geräte über meinem Kopf einfach abgestellt. Zu mir herabgebeugt, zischelte er beinahe unverständlich:
„Mach hier nicht so`n Wind! Wir vergessen dich schon nicht. Auch du kommst schon noch dran. Nur keine Eile, mein Herr. Was lange wärt, wird endlich gut.“
Und genauso wie er gekommen war, war er auch schon wieder zur Tür hinaus. Ich hätte zu gerne gefragt, was er mit, „…du kommst auch noch dran“, eigentlich gemeint haben könnte. Doch meine Kehle war nun schon so lange wie mit einem Packband verschlossen. Nicht nur ans Bett gefesselt, auch noch geknebelt? Ich hasste solch abgedroschene Phrasen!
„Du wusstest es also nicht von Anfang an, sagst du?“
Beinahe ungläubig waren seine Augen nun. Auch ohne meine Fantasie über Gebühr zu bemühen, konnte ich darin so etwas wie Trotz und kaum verborgene Aggressivität erkennen.
-Nein, sie hat es mir zunächst vorenthalten. Glaub es mir ruhig.-
„Es hätte also alles auch ganz anders kommen können?“
-Das alles wäre gar nicht so weit gekommen, wäre ich nur nicht so blind gewesen. So unsagbar blöd noch dazu. Aber du weißt ja, am Ende ist man immer schlauer.-
Wie ein Großer nickte er.
„Ja, du hast vermutlich Recht und ich sollte nicht so sehr in dich dringen. Erzähl einfach. Ich höre von nun an nur noch zu.“
Nun hätte er ganz ohne weiteres schon auf die Zwanzig zugehen können. Ein junger Mann, der soeben seine Männlichkeit zum Thema macht? Dessen Interesse weit über das von Kindern oder Jugendlichen hinausgeht? Ein junger Erwachsener halt? So, wie ich damals?
-Ich saß im kühlen Büro der im Regierungsauftrag betriebenen Technischen Prüfanlage. Die Deutsche Bundesregierung unter Willy Brandt hatte mit verschiedenen Ländern der Dritten Welt, so genannte Entwicklungsverträge abgeschlossen, in deren Folge es zur Zusammenarbeit mit den dortigen Behörden kam. Idee der Deutschen war wohl, den Afrikanern so etwas wie Deutsche Gründlichkeit zu verpassen. Dazu gehörte natürlich und nicht ganz selbstlos, die regelmäßige Überprüfung von Kraftfahrzeugen. Der Deutsche TÜV als Motor des Fortschritts. Und das in einem Land, in dem Esel, Pferd und natürlich das Kamel die angesagten Transportmittel darstellten.
Unser Arbeitgeber, der Deutsche Entwicklungs Dienst hatte sich der Sache angenommen und somit schauten wir den Äthiopiern nun wie selbstverständlich unters Blech. Jonas und ich leiteten damit Afrikas erste Kraftfahrzeugs-Prüfanlage. Und das in einem Land, in dem 95% der Verkehrswege nur aus unbefestigten Sandpisten bestehen.
Allerbester Ingenieurskunst und darauf basierender Technik, musste daher innerhalb kürzester Zeit die Puste ausgehen. Die wenigen privaten und sogar behördlichen Fahrzeuge schienen solche Verhältnisse jeden Tag aufs Neue zu bestätigen. Dabei war sehr erstaunlich, wie geschickt die Einheimischen ihre Fahrzeuge doch immer wieder ins Leben zurück bastelten.
Gute Automechaniker, die wir dann zu Prüfern heranzogen, waren daher auch erstaunlich schnell gefunden. Auf den dreisprachigen Aushang hin im Souque, hatten sich beinahe 500 Leutchen beworben. Alle, nach eigenen Angaben, gute Schrauber, Schweißer und Blechdengler! Die wenigen rein technischen Fragen, konnten dann allerdings nur eine Handvoll von ihnen, zu unsrer Zufriedenheit beantworten. Diese waren es dann auch, die es wurden.-
„Wantabe, du weißt, Wantabe war er auch dabei?“
Gegen seine vorige Ankündigung hatte er mich nun doch wieder unterbrochen.
-Ja, in der Tat, Wantabe war auch dabei.-
„Dann hast du selbst diese Natter an deinem Busen genährt?“
Hörte ich da reinen Vorwurf oder nur etwas heraus, was doch noch unendliche Trauer genannt werden könnte?
Nun hatte ich einen etwa Zwölfjährigen neben mir stehen.
Ich schloss meine Augen. Wie konnte es nur so weit kommen? Wie war ich eigentlich in diese, scheinbar so hoffnungslose Lage gekommen?
-Hattest du nicht gesagt, mein Kleiner, dass ich einfach nur erzählen soll? Du mir nur zuhören mögest?-
„Ja, dann mach schon. Ich unterbreche dich nicht noch einmal. Es war also dieser Teufel Wantabe, der uns ins Verderben stürzte?“
-Wantabe war auch nur Opfer seiner Verhältnisse, nicht der Teufel als du ihn jetzt sehen willst.
„Wantabe verdanke ich nun also meine Nichtexistenz?“
Wolltest du nicht schweigen, mein Kleiner. Wer bist du denn eigentlich? Ich erzähle ja schon.-
„Ich bin wohl doch zu sehr du. So, wie auch du, bin ich immer nur voller Ungeduld, was ja auch nicht verwunderlich ist, warte ich nun auch schon so lange auf dieses Gespräch mit dir.“
Du wartest? Auf ein Gespräch mit mir?
Der, der jetzt an meinem Bett stand, dürfte auch schon über die Jahre lang einen Rasierpinsel nebst einer scharfen Klinge zu seinen Utensilien zählen. Ich schätzte ihn nun auf knapp Vierzig. Den Kleinen von noch soeben, konnte ich nun nicht mehr entdecken.
-Wantabe, der, der alles ausgeheckt hatte, kam also des Morgens aufgeregt in mein Büro gestürmt.
Es hätte zuhause einen kleinen Unfall gegeben. Verena wäre im Spital, nichts ernstes, aber sie hätte nunmal hysterisch nach mir verlangt.-
Eine Hand, seine Hand strich mir nun sehr sachte über die Stirne.
-Ich war sofort in die Prüfanlage gestürmt, hatte Wantabe gar nicht erst ausreden lassen. Jonas stand mit einigen Offiziellen, die ich kannte, in einer der Gruben unter einem so landestypischen, klapprigen Vorkriegs-Fiat-Transporter und ich zog ihn einfach von dort weg.
Wantabe wiederholte nun beinahe wortgleich vor Jonas seine Nachricht und ich eilte sofort hinter die Baracke, um den Landrover zu holen.-
-Hätte ich das nur unterlassen. Und nach der Quelle für Wantabes Information zu grübeln, hatte ich ja dann auch im Verlauf der nächsten Monate noch genügend Zeit.
Der Grund, möglicherweise auch sogar der Anlass für meine sicherlich nicht nur übertriebene Sorge um meine Frau, hatte sich mir, die letzten Wochen zu sehr mit Arbeit überschüttet, erst früh an diesem Morgen erschlossen.
Und dieser Erkenntnisgewinn, mir von Verena beinahe liebevoll in ihrer immerwährenden Zurückhaltung präsentiert, war es auch, der mich jetzt beinahe vor Ungeduld platzen ließ.-
-Welche Klinik, Wantabe, sag schon, welche Klinik?-
-Wortlos stieg er ein. Sein versteinertes Gesicht wies mir die Richtung. Hatte ich noch gedacht, es ginge in Richtung Churchill Road, der Tangente , sollte ich nun in Richtung des Berges Entoto fahren.
Die, Stadt in etwa zweitausend Höhenmetern gelegen, breitet sich zu Füßen dieser imposanten Erhöhung aus. Dass in dieser Richtung eine Klinik lag, liegen sollte, war mir eigentlich unbekannt.
Aber mein Beifahrer war ja schließlich aus der City und musste es demnach auch viel besser wissen als ich. Zu protestieren, fiel mir daher auch noch überhaupt nicht ein.-
Nun machte ich eine Pause. Ich sah zu ihm hin und war gar nicht mal erschreckt oder auch nur erstaunt, nun auf einmal in ein pausbäckiges Bubengesicht zu blicken. Vor Erregung ganz rot geworden, schien er nur begierig an meinen Lippen zu hängen.
„Wie geschah der Überfall? Sag schon, war es dieser Scheißkerl, der dich mit einer Knarre bedrohte?“
Er hatte schon wieder seine Ankündigung, nur zuhören zu wollen, vergessen, was mir aber gar nichts ausmachte.
-Nein, ganz anders. Auf einmal kam der Äthiopier ins Quatschen. Der, der noch zuvor mit versteinerter Miene neben mir gesessen hatte, plauderte ohne Unterlass auf mich ein. Einer seiner Cousins hätte meine Frau, die Missis, ins Hospital gebracht und er würde irgendwo da vorne auf uns warten und uns zur Klinik begleiten.
Ich hatte nichts dagegen. Der Kerl müsste dann nur hinten auf den Pickup klettern, denn das Fahrzeug hatte nur die beiden, bereits von Wantabe und mir besetzten Plätze.
Dass im Endeffekt ich es sein würde, der mit einem Sack über dem Kopf und auf den Rücken gebundenen Armen auf der Ladefläche lag, wäre mir da doch überhaupt noch nicht einmal im Traum eingefallen.-
-Schau mir ins Gesicht, mein Kleiner, wenn du mal einen überaus vertrauensseligen Trottel sehen willst!-
„Ich sehe dich als etwas ganz anderes an, als einen Trottel. Und ich bin jetzt auch nur darum hier, weil ich mir mein Bild von dir, nicht völlig kaputt machen lassen will.“
Ich hätte nun zum ersten Male meinen Vorteil als Befragter auskosten können und ihn zwingen, mir seinen Namen zu verraten. Ich tat es dennoch nicht und ich glaube sogar, schon da den wirklichen Grund seiner Neugierde und seinen Namen gekannt zu haben. Sollte mein, noch nur Verdacht, sich letztlich bestätigen, müsste ich meine in langen Jahren der Bitternis und sogar wenigen Tagen der Triumphe gewachsene Weltensicht, noch einmal einer gründlichen Überarbeitung unterziehen.
– Es ging dann auch sehr schnell! Mein Beifahrer zeigte auf einen, auf einem Ölfass Sitzenden. Du musst wissen, dort wurden so die Fahrbahnränder markiert. Ich hielt direkt vor dem Kerl an.
Der, im Gegensatz zu Wantabe pechschwarz, trat überaus freundlich an das Seitenfenster heran. Ich gab ihm das Zeichen, hinten aufzusitzen. Er ignorierte es und es kam nun zu einem kurzen Wortwechsel zwischen den Beiden, in einem mir bislang völlig unbekannten Kauderwelsch.
Nun kamen mir Zweifel und mich beschlich dieselbe Panik, die mich dann auch über die nächsten Monate hin meist vom Schlafen abhielt.
Was wäre, wenn das nun eine Falle wäre? Wenn ich Erpressern in die Hände fiele? Was war mit Verena?-
Ein sehr nachdenklich Scheinender stand nun am Fußende meines Bettes. Ich schätzte ihn auf mindestens Mitte Zwanzig. Wie war ich eigentlich gewesen mit Mitte Zwanzig? Könnte es da wohl eine Ähnlichkeit mit diesem hier geben? Sprach ich vielleicht nur mit mir selber? Die ganze Zeit? Gab es so etwas verrücktes eigentlich?
Nun gut, ich lag hier weil ich einen Unfall hatte. Irgendwer hatte meine Vorfahrt nicht beachtet und ich war mit dem Motorrad gestürzt. Aber war das nun nicht auch schon Monate her?
Und wann war das eigentlich? Das in Äthiopien! Hatten beide Ereignisse irgendetwas mit einander zu tun? Gab es da irgendwelche Zusammenhänge?
Und wer war dieser junge Mann da? Mein verschollen geglaubtes Ich?
Und was war es eigentlich, das mich und Verena dann endgültig auseinander brachte? Mich immer wieder nach Afrika und Arabien zurück holte? Verena schließlich zur erfolgreichen Reiseschriftstellerin werden ließ und mich dagegen beinahe in die tiefste Depression beförderte?
-Aber, bitte, gib mir Zeit mich zu finden, mein Lieber. Ich muss nur noch ein wenig Kraft sammeln.-
Beinahe gnädig nickte er nur.
-Wischnewski war es dann! Ben Wisch, wie von den Arabern und Medien so benannt. Der stand auf einmal vor meiner verschimmelten Pritsche und versuchte äußerst lebhaft, mir ein Gespräch auf zu zwingen. Ein Gentlemangesicht, versteckt hinter einer riesigen Brille!-
„Herr Weller! Sind Sie der Deutsche Staatsbürger Joseph Weller? Wir holen Sie hier raus! Ihrer Frau geht es gut. Sie ist schon seit Stunden in der Deutschen Botschaft in Mogadischu. Wir haben nun durch einen sehr glücklichen Zufall von ihrer beiden Gefängnisse in Somalia erfahren. Die hiesigen Behörden haben sich wirklich vorbildlich verhalten. Wir haben allen Grund, dem Staatspräsidenten zu danken. Denken Sie bitte immer daran! Er möchte Sie beide bei sich zuhause empfangen.“
Mogadischu? Wie war ich nach Mogadischu gekommen?
„Mogadischu? Sie sagen, ich bin in Somalia? Ich bin…, ich war Deutscher Entwicklungshelfer in Adis Abeba. Und ich wurde vor Monaten dort entführt. Welches Datum haben wir? Und warum meine Frau? Die ist doch schon so lange wieder in Frankfurt.“
„Wir sind hier in Somalia. Die Äthiopier haben, soviel steht fest, Sie beiden nach Somalia verkauft. Sofort nach ihrer Entführung hatte es wohl Streit unter den Entführern gegeben. Eine linke Gruppe, die sich ein Zubrot durch Entführungen erhofft hatte und wohl Erithräische Separatisten unterstützte. Können Sie aufstehen Joseph? Was macht Ihre Operationsnarbe? Wir haben erfahren, sie sind am Blinddarm operiert worden. Sie seien sehr tapfer gewesen, sagen die Offiziellen hier. Sie sehen, man weiß hier sehr gut Bescheid.“
„Warum solange? Warum hat das alles hier solange gedauert. Sagen Sie mir bitte, warum so lange?“
„Herr Weller, was heißt schon so lange in Afrika? Hier ticken die Uhren doch ganz anders.“
-Der Kerl, den ich damals noch für einen der typischen Aufschneider im diplomatischen Dienst des Bonner Außenamtes gehalten hatte, konnte wohl gar nicht anders, als seinen Gedanken einfach immer weiter freien Lauf zu lassen. Mir, jedoch ging er damit ganz fürchterlich auf die Nerven. Ich glaube, dass du das sogar verstehen willst, mein junger Freund.-
Da waren sie wieder, die vor innerer Erregung geröteten Wangen. Nun, allerdings in dem Gesicht eines wohl schon über Sechzigjährigen. Was, zum Teufel, ging hier mit mir vor?
-Hinter der Öltonne hatte der Schwager Wantabes, eine AK 47 stehen. Und unversehens blickte ich nun in einen Mündungsfeuerdämpfer und mir brach, diesmal nicht der Hitze wegen, der kalte Angstschweiß aus. Du musst wissen, trotz meiner Bundeswehr-Dienstzeit bei den Fallschirmjägern hatte ich meinen Respekt vor Feuerwaffen nie ganz verloren. Ob das charakteristische Magazin voll war, die Waffe gar durchgeladen und entsichert, wollte ich da schon gar nicht mehr wissen. Ich konnte nur noch an Verena denken. Diese Hiobsbotschaft mit ihrem häuslichen Unfall war wohl hoffentlich doch nur fingiert, um mich hierher zu locken. Na gut, sollten sie mit mir machen was sie wollten. Hauptsache war doch, dass sie Verena nichts Böses antaten.-
„Sie waren nun über neun Monate in der Hand Ihrer Entführer.“
-Ben Wisch saß neben mir in dem Kleinbus der Botschaft. Ein GSG 9 Mann auf dem Beifahrersitz und am Steuer ein etwas älterer Beamter des Pullacher Bundesnachrichten-Dienstes. Ich fühlte mich wie gerädert.-
-Vor etwa zwei Wochen hatte es angefangen. Erst ein Ziehen, später dann Schmerzen. Übelkeit bis zum Erbrechen.
Ich hatte es zunächst auf das Essen geschoben. Du weißt ja noch, vergammeltes Kamel!-
„Ja, erzähl, wie war das mit dem toten Kamel?“
-Ach weißt du, das war gar nicht so spektakulär. Wir, Verena, Hans-Jürgen Wischnewski, ich, der Mann vom Stern und der Mann vom BND haben dann am nächsten Tag, direkt nach dem Foto-Termin beim Staats-Präsidenten, mehr war es ja dann auch nicht, einen Marktbummel gemacht.
Der BND-Mann lachte, als er auf die in der Sonne gammelnden großen Fleischstücke zeigte und meinte, dass wir beide unser Überleben wohl nur dieser Köstlichkeit verdankten. Typisch harter Knochen von einem Agenten, meinte er dann auch noch, wir hätten uns zumindest doch noch das Rezept geben lassen sollen.
Wäre ich wirklich schon von der Notoperation in meinem Gefängnis ganz genesen gewesen, hätte ich ihm unbedingt eine rein gehauen.
Wahrscheinlich aber war er gar nicht so kaltschnäuzig wie tat, sondern wollte Verena und mich nur ein wenig aufheitern. Auf seine ganz eigene und überaus zynische Art.
Den Kerl habe ich dann noch einige Male wieder gesehen. Zuletzt in unserem neuen Domizil in Konstanz. Bei den zahllosen Vernehmungen durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Staatsschutz. Verena war dann aber schon sehr bald ausgezogen.-
-Der Arzt war es dann wohl, der den entscheidenden Hinweis gab.
Irgendwer war auf einmal in die Deutsche Botschaft in Mogadischu marschiert und hatte ausgepackt. Die Bundesregierung soll dabei aber keinerlei Lösegeld gezahlt haben, so die offizielle Auskunft.
Meine Chefs in Bonn hatten dann aber ganz andere Informationen erhalten. Mangels schwarzer Kassen im Außenamt, wurden dann doch irgendwelche wilden Umbuchungen zu Lasten der Entwicklungshilfe publik. Zu der Zeit wurden Entführungen von Entwicklungshelfern zu einem gut florierenden Geschäftsfeld in Afrika und dem Nahen Osten. Der Spiegel machte dann natürlich auch sofort daraus eine Titelstory.-
„Erzähl von Verena! Wie hat sie ihr Kind verloren? Was hatten die Schweine ihr angetan?“
-Sie hat nie darüber gesprochen, jedenfalls nicht mit mir. Später dann. Sie war gerade aus Thailand zurück, ihre erste große Reisereportage für GEO, der Artikel in der ZEIT. Hier nun erfuhr ich erst von ihren Leiden.-
Ein sehr nachdenklicher etwa Vierzigjähriger blickte erwartungsvoll auf meine Lippen. Ich brauchte noch etwas Zeit, nur um die richtigen Worte zu finden.
-Sie war auf die gleiche Story wie ich hereingefallen. Es hätte einen Unfall gegeben. Ein Mann stand vor dem Tor. Ich hätte ein Taxi geschickt, um sie abzuholen.
So wie sie war, ohne irgendwem Nachricht zu geben, war sie einfach eingestiegen. Ihre Küchenhilfe, die etwas zu spät gekommen war, hatte sogar noch den Wagen wegfahren sehen. Sie hat dann allerdings erst am Abend Alarm geschlagen. Du musst wissen, auch wenn wir nur zu zweit waren, hielten wir ein wenig Personal im Hause für überaus angebracht. Und diese junge Frau mit nicht weniger als sechs Kindern, war froh bei uns zu arbeiten. Und Verena war natürlich auch sehr froh, von ihr eine ganze Menge über Land und Leute zu erfahren. Und ich sah in den Einheimischen auch noch so etwas, wie eine gute Versicherung.-
„Und das Kind? Du wusstest es ja seit diesem Morgen, sie war schwanger.“
-Der Fahrer fuhr mit ihr zu einem Lagerhaus. Dort wurde sie sehr energisch zum Aussteigen ermuntert. Einige Frauen warteten schon auf sie. Genauso wie ich, wurde sie gefesselt und geknebelt, mit einem Sack über dem Kopf auf die Pritsche eines Autos geworfen. Nach zwei Wochen in einem Drecksloch ging es über Tage in Richtung Osten, wie wir erst Monate später erfahren haben. Unsere Gefängnisse lagen nur wenige hundert Meter auseinander. Die Frauen, die sie bewachten waren wirklich nicht sehr nett zu ihr.
Irgendwann, Verena hatte früher Judo gemacht, war es zum Streit gekommen. Ein zweites Weib war dem ersten, laut schreienden zur Hilfe gekommen. Das, um Verenas Klammergriff abzuwehren, hatte ihr in den Unterleib getreten. In der folgenden Nacht war es dann zu Blutungen gekommen, die nicht mehr versiegen wollten. Die beiden Weiber, die, die ihr noch zuerst ein paar schmutzige Lumpen für die Blutung hingeworfen hatten, waren dann auf einmal sehr freundlich. Sie schienen erst jetzt sehr um sie bemüht. Sie bekam einige Tees und eine seltsam schmeckende Paste.
Dann, Tage später, änderte sich das Bild. Ein finsterer Typ war aufgetaucht.-
-Dieser führte sie dann aus dem Lehmziegelhaus an eine Mauer. Sie solle ganz genau lauschen. Das, was sie nun höre, könnte ihr genauso geschehen. Sie horchte und was sie hörte, warf sie dann um. Auf der anderen Seite der Ziegelmauer bellte eine Kalaschnikow los.-
„Dein Mann war genauso störrisch wie du. Wir mussten ihn bestrafen!“ sagte er in fließendem Deutsch.
-Später konnte ich von dem BND-ler erfahren, dass dieser Kerl 15 Jahre lang in Bremen gelebt und als Koch gearbeitet hatte. Er konnte vom Somalischen Geheimdienst ganz klar identifiziert werden. So wie diese Weiber auch.
In der Nacht kamen die Blutungen einem Wasserfall nicht ganz unähnlich wieder. Verena hatte geglaubt, dass ich es war, der hinter der Mauer erschossen wurde.-
Der nun etwa Vierzigjährige legte seine Stirn in tiefe Falten. Ich konnte sehen, wie schwer er atmete. Schweißtropfen glänzten auf seiner Haut. Er griff nach einem Stuhl, nahm Platz. „Erst jetzt?“,dachte ich mir.
„Hierdurch verlor sie das Kind?“
Keine Frage war es, eher eine Antwort. Seine Antwort auf meine Frage, wer er sei und wie sein Name.
„Sie verlor ihr Kind, …also mich.“ Auch hier wieder, keine Frage, eine Antwort.
-Du bist?- Das nun war meine Frage.
„Lukasz!“
* * *
Licht durchflutete mich. Der dicke Pfleger leuchtete mir mit einer sehr starken Taschenlampe direkt in die Pupillen.
„Die Reflexe sind gut. Wir können ihn nach oben bringen. Es sieht alles sehr gut aus. Herr Weller, hören Sie mich? Sie können nun ruhig aufwachen. Sie haben die Operation gut überstanden. Ihre Frau wartet schon oben auf Sie. Nicht erschrecken, wir bringen Sie auf die Station. Ihre Tochter ist auch da.“
Brigitte, meine zweite Frau und Julia, mein Kind.
-Ach ja, Ben Wisch! Bis zu seinem Tod vor ein paar Jahren, kam immer zum Jahrestag unserer Befreiung ein Geburtstagsglückwunsch aus Bonn!-
Alfa Sierra 11.März 2013 chefschlumpf (nach einer wahren Begebenheit)