Stromausfall – Die bunte Welt von Vivienne

Wieder ging ein langer Arbeitstag zu Ende. Ich war froh, als ich aus dem Lift in der Firma ausstieg – das unüblich warme Wetter in diesem untypischen Herbst setzte mir zu. Oder war es doch die Geschichte, die einer Kollegin von uns, Frau Reiter, passiert war? Ich wusste es nicht, nicht genau. Ich stieg in die Straßenbahn und starrte aus dem Fenster… Da war sie wieder, die Stimme der Kollegin. Sie klang verbittert und ihre Gesichtszüge wirkten verhärmt. Und obwohl ich es eigentlich überhaupt nicht wollte, ließ ich ihre Erzählung Revue passieren… Frau Reiter war seit über zehn Jahren verheiratet und wenn man sie letzte Woche noch gefragt hätte, ob ihre Ehe glücklich wäre, hätte sie überzeugt versichert: „Ja, natürlich. Wir führen eine sehr harmonische Ehe…“

Ich dachte nach. Würde ich das nicht auch behaupten von Ali und mir? Aber weiß man es? Ganz sicher? Frau Reiters Stimme erklang wieder in meinem Ohr. „Es ist unfassbar. Ich war bei der Chorprobe, wie jeden Donnerstag um 20:00 Uhr, in der Musikschule. Wir hatten uns noch nicht eingesungen, als wir plötzlich im Dunkeln standen…“ Frau Reiter schnaubte laut hörbar. „Kein Licht, das elektrische Keyboard, das unseren Gesang unterstützen hätte sollen, funktionierte natürlich auch nicht. Der Chorleiter trieb im nahen Büro der Musikschule eine Taschenlampe auf. Wir standen sehr lange im Dunkeln und warteten darauf, dass es jeden Augenblick wieder hell werden würde. Aber schließlich kehrte er zurück, unverrichteter Dinge, und schüttelte den Kopf. Alles was er wusste, war, dass es nicht an einer kaputten Sicherung lag, es musste einen gröberen Anlass für den Stromausfall geben…“

Ich blickte mich um. Die Straßenbahn hatte sich fast geleert und draußen begann es immer dunkler zu werden. Abgesehen davon hätte man tagsüber glauben können, es wäre Oktober. Und erstaunlich, wie viele Bäume noch in Laub standen… Frau Reiters anklagende Stimme holte mich zurück. „Was hätten wir tun sollen? Unsere Probe hätten wir nicht fortsetzen können, auf keinen Fall. Sinnlos in der Finsternis zu singen… Wir verließen die Musikschule und ich setzte mich in mein Auto und fuhr heim.“ Frau Reiter lachte kurz. Das Lachen klang wütend. „Ja, und während der Fahrt hatte ich mich schon arrangiert mit der Situation. Ich freute mich auf einen gemeinsamen Abend mit meinem Mann, vielleicht bei einem Glas Wein…“

Drei Stationen noch! ging mir durch den Kopf. In zehn Minuten war ich daheim, wo Ali schon auf mich wartete… Verständlich, dass Frau Reiter sich einen harmonischen Abend ausgemalt hatte. Allerdings sollte sie sich gewaltig irren… „Im Haus war es dunkel, was mich verunsicherte“, räumte Frau Reiter ein. „Mein Mann ging nie so früh schlafen, er wartete nach der Chorprobe immer auf mich und fragte mich, wie es gelaufen war. Er war ja immer so aufmerksam…“ Frau Reiter schluchzte leise. „Ich ging daraufhin ins Schlafzimmer, ich machte mir Sorgen um meinen Mann. Als ich die Schlafzimmertür aufriss, drang lautes Stöhnen von zwei Personen an mein Ohr. Ich drehte das Licht auf und erkannte unsere Nachbarin, in eindeutiger Position auf meinem Mann… Beide splitternackt…“ Frau Reiter begann zu weinen. Sie konnte nicht mehr aufhören…

Ich ging die letzten Schritte zu unserem Wohnblock. Als ich aufsperrte, merkte ich, dass meine Hände zitterten. Du bist verrückt! sagte ich zu mir. Ali weiß, dass ich komme, der holt sich doch bestimmt keine Geliebte in die Wohnung! Ich sperrte auf und hörte Ali, wie er in der Küche sang, laut und falsch. Wenn ich so nachdachte, sollte es wohl „Feliz navidad“ sein… Das Essen duftete verlockend. Ich zog die Schuhe und den Mantel aus und schlich mich in die Küche. Ali sang weiter so laut, dass er mich nicht hören konnte und rührte im Suppentopf. Irgendwie war ich erleichtert… Gerade als ich Ali anstupsen wollte, drehte er sich blitzschnell um, packte mich und drückte mir einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen, sodass ich kurz nach Luft rang. Dann lachte er mich mit leuchtenden Augen an und als ich ihm so ins Gesicht blickte, dachte ich mir, dass er sich schon gewaltig verstellen müsste, wenn er wirklich eine Freundin hätte…

Nach dem Essen setzten wir uns auf die Couch. Ich hatte Ali die Geschichte der bedauernswerten Frau Reiter erzählt und mein Mann gab seinen Senf dazu. „Vielleicht war die gute Frau sexuell einfach zu bieder“, mutmaßte er. Ich glaube nicht, dass ihr Mann grundsätzlich unglücklich war in dieser Ehe, aber die Affäre mit der Nachbarin brachte halt das Feuer in sein Leben, das sein Glück perfekt machte.“ Ali war leiser geworden. „Jetzt wird er Probleme haben, die Sache wieder zu kitten, aber ich glaube nicht, dass sich deine Kollegin scheiden lässt. Frauen wie sie können nicht loslassen, und außerdem besitzen sie ja ein Haus…“ Ali legte den Arm um mich. „Der Stromausfall war irgendwie schicksalhaft, findest du nicht, Vivi? Aber vielleicht ist er ja ein Impuls für die Reiters sich einmal auszureden und gemeinsam neu zu starten… Was meinst du?“

Vivienne

2 Gedanken zu „Stromausfall – Die bunte Welt von Vivienne“

  1. Ja – ich weiß nicht, dies ist so ein klassischer Fall – Frau kommt früher nach Hause als geplant und Mann liegt mit Nachbarin im Bett. Muss es so weit kommen und ist erst dann eine Aussprache möglich – ein Neuanfang? Wie lange war die Frau schon ahnungsloser Begleiter dieser Affäre – ohne dass sie irgendetwas gemerkt hat. Hat sie es verdrängt, nicht hin geschaut oder nicht hinschauen wollen oder war er ein perfekter Schauspieler. War es Liebe oder nur Sex? Viele Fragen – es gibt nicht schwarz und weiß – auch wenn es nach Täter und Opfer aussieht. Ich kann für mich sagen,die Umwelt sah man mich als Opfer aber eigentlich war ich Täter. Ich hatte ihn schon lange innerlich abgelehnt und daraufhin hat er sich eine Andere gesucht, aber für andere sah es aus, als ob ich die Betrogene war. Komisch, aber ich musste erst 40 werden um Sex als Spaß zu sehen und zu genießen und nicht als eheliche Pflicht.

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